Der Geruch von Blut Thriller
grellweißen Wände endeten gleich einem Gletscher in der gewölbten Decke.
Das Mädchen gibt ihm zu denken.
»Was machen Sie da, im Hotel?«, fragt sie.
Als erwarte sie so etwas wie Fahrstuhlführer oder Page. »Ich bin Lehrer.«
»Was unterrichten Sie?«
»Literatur.«
»Das, was man modern nennt? Oder klassische?«
»Beides.«
»Deswegen haben Sie so viele Bücher hier stehen«, sagt Harley. »Mein Dad mag Western. Liest Ihnen die jemand vor?«
»Das sind meine. Aus der Zeit, als ich noch sehen konnte.«
»Ah, ja, jetzt sehe ich die Narbe auf ihrem Kopf, durch die nassen Haare. Wie können Sie Sprache unterrichten, wenn Sie sie gar nicht lesen können?«
»Ich habe jemanden, der mir hilft. Sie liest mir die Aufsätze meiner Schülerinnen vor, damit ich sie benoten kann.«
»Was ist denn mit Ihnen passiert?«
Die Frage ist fast erschreckend in ihrer Einfachheit. Sie ist es, die all die kleinen Rädchen in Bewegung setzt. Er schüttelt den Kopf. Es ist seine einzige Antwort.
Sie geht zum Kühlschrank. Er hört, wie sie den Korken aus der halbvollen Flasche Zinfandel zieht und direkt daraus trinkt.
Wunderbar. Ein betrunkenes minderjähriges Mädchen mit diversen blauen Flecken. Er könnte genauso gut die Hände ausstrecken und auf das Klicken der Handschellen warten.
Sie rülpst, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten, ohne dass es ihr peinlich wäre. »Haben Sie eine Freundin?«
»Ja.«
»Die Krankenschwester?«
Es ist nicht unbedingt ein Geheimnis, dass Roz und er ein Paar sind, aber etwas an der Art, wie Harley Moon es ausspricht, sagt ihm, dass es ihr jemand unter vier Augen erzählt haben muss. »Woher weißt du das?«
»Sie ist also nicht nur Ihre Partnerin.«
»Meine Partnerin?«
»Ich kriege einiges mit. Die Leute reden viel.«
»Wer redet was?«
»Schlimme Dinge. Dinge, die nicht für mich bestimmt sind. Aber ich habe gute Ohren. Nur so kann ich meine Familie vor Ärger bewahren, soweit es eben geht. Ich pass auf meine kleinen Geschwister auf, die Großen sind
nämlich krank. Aber manchmal sehen die Leute, wie ich meine Ohren spitze, und dann gerate ich selbst auf den Weg des Verderbens.«
Mein Gott, was für tragisch-romantische Ausdrücke dieses Mädchen benutzt. Dieses sterbende Städtchen hat seine Bewohner eine ganz eigene, gnadenlose Poesie gelehrt. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
»O doch. Es läuft nicht gut für Sie, blinder Mann. Ein böser Wille denkt an Sie.«
»Ein böser Wille? Was meinst du damit?«
»Bringen Sie es in Ordnung.«
»Was in Ordnung bringen?«
Er kommt sich idiotisch vor. Hat er jemals vorher so viele Fragen gestellt? Selbst als er in der Dunkelheit seines Krankenhausbettes aufwachte? Er hebt die Hände, wie um zu sagen: Moment, ganz langsam, und bitte etwas deutlicher.
»Ich versuche zu helfen. Ich will Gutes tun. Also begleichen Sie Ihre Schulden. Tun Sie es schnell. Tun Sie es jetzt.«
Finn hört, wie sie den Rest der Flasche austrinkt, und überlegt, gegen wie viele Schulregeln und Gesetze er gerade verstößt. Er hofft, der Sturm ist stark genug, damit Judith nicht die Tür beobachten kann. Oder Violet. Um was man sich alles Gedanken machen muss, den lieben langen Tag.
»Was meinst du damit? Und woher weißt du von der Metallplatte in meinem Kopf?«, fragt er erneut.
Harley Moon antwortet nicht. Sie läuft im Zimmer umher, von einer Ecke zur anderen. Finn hat das Gefühl, dass sie ihn einfach nur von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachten will. Sie will seine Narben sehen, seinen
leeren Blick. Ihre Schritte werden sanfter. Sie stößt einen angespannten Laut aus, als wollte sie ihn drängen, die richtige Entscheidung zu treffen.
»Harley?«
Er spürt einen kalten Luftzug am Hals, dann nur noch Wärme und Stille. Die unerbittliche, undurchdringliche Dunkelheit scheint sich zu lichten, für einen kurzen Moment. Das Mädchen ist weg.
E ine halbe Stunde später kommt Roz, stampft den Schnee von den Stiefeln und fragt: »Was ist passiert?«
Sie muss nur den Raum betreten und weiß sofort Bescheid. Vielleicht sendet er Signale aus, erzeugt eine Art Kraftfeld, das einfühlsame Menschen auf seine Probleme aufmerksam macht.
Er versucht es mit einer Lüge, was nicht unbedingt die klügste Entscheidung ist, wenn jemand einen schon vorher durchschaut hat. »Nichts.«
»Komm mir nicht so, Finn.« In ihrer Stimme ist keine wirkliche Erregung zu hören. »War diese Treato wieder hier?«
»Nein.«
»Na Gott sei Dank. Der Wein ist
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