Der Gesandte des Papstes
zu gehen. Er räusperte sich. »Ich habe über alles nachgedacht, was geschehen ist. Über unser Gespräch. Ich will genau wissen, was mit mir geschieht … wie wahrscheinlich es ist, dass ich sterbe.«
Blaise warf einen kurzen Blick zu den beiden Büchern, in denen er vermutlich den ganzen Tag gelesen hatte. Raoul kannte sie, so oft hatte sein Lehrer davon erzählt. Es waren das kitab al-shifa und das al-qanun al-tibb, die bedeutendsten Werke des persischen Arztes ibn-Sina, einem Heiligen in seiner Heimat. Das Buch des Heilens und der Kanon der Medizin in lateinischen Abschriften. Krankheiten und Heilmittel, die darin nicht zu finden waren, waren nirgendwo zu finden. »Der blutige Husten bedeutet, dass deine Lunge zerfällt«, erklärte der Kaplan. »Wie ich dir sagte, ist die wahrscheinlichste Ursache ein fressendes Geschwür - oder der Schwund oder eine Krankheit, die ich
nicht kenne. Aber die Folge ist in allen Fällen dieselbe. Nur bleibt dir bei der einen Krankheit mehr Zeit, bei der anderen weniger.«
Raoul nickte stumm. Er hatte diese Antwort erwartet. Doch sie aus Blaises Mund zu hören, laut und ohne die geringste Aussicht, sie als Hirngespinst abzutun, war etwas ganz anderes. Mit belegter Stimme sagte er: »Angenommen, es ist ein Geschwür - was kannst du dagegen tun?«
»Nichts«, antwortete Blaise schlicht. »Alles, was ich habe, sind Kräuter, die deinen Husten lindern können und die Schwäche, die dir bald zusetzen wird, verringern.«
»Und ein Wundarzt? Ich habe gesehen, wie sie Geschwüre aufschneiden, die auf den Armen und in den Achseln sitzen.«
»Aber deines wächst in der Lunge. Nicht einmal der fähigste Arzt am Hof des Sultans wäre dazu in der Lage. Wenn blutiger Husten auftritt, ist das Geschwür bereits so groß, dass alle Hoffnung vergeblich ist.«
Raoul schloss die Augen und fasste sich an die Stirn. Seine Haut glühte. Er war gekommen, um vernünftig über alles zu sprechen. Aber es war so schwer. Jedes Wort von Blaise brachte neue Verzweiflung. »Warum ich?«, flüsterte er. »Warum musste es mich treffen?«
Blaises Stimme klang behutsam, voller Liebe. »Das weiß Gott allein.«
In den nächsten Tagen ging Raoul allen aus dem Weg. Nacht für Nacht schlief er nur wenige Stunden, verließ im Morgengrauen das Haus, ritt durch die Wälder bis zum Einbruch der Dunkelheit und kehrte zurück, wenn seine Familie, Blaise und die Bediensteten bereits schliefen. Er wusste, dass er die Zeit, die ihm noch blieb, mit Jacques und Lysanne und Jean verbringen sollte, doch ihre Niedergeschlagenheit, ihre Furcht und ihr Mitgefühl riefen ihm immer wieder aufs Neue in Erinnerung, was ihm bevorstand. Jacques versuchte mehrere Male, mit ihm
zu sprechen. Aber Raoul wich ihm aus. Einmal machte er einen Scherz über seinen baldigen Tod, der seinen Bruder so sehr in Wut versetzte, dass sie sich beinahe schlugen. Von da an ließ Jacques ihn in Ruhe.
Der Husten verschlimmerte sich, und die Krankheit begann, von seinen Kräften zu zehren. Eines Abends verfolgte er ein Reh durchs Unterholz. In der Hand den Bogen, hastete er einen langen Hang hinauf, was ihn früher lediglich etwas außer Atem gebracht hätte. Jetzt musste er nach einer viertel Meile aufgeben, weil sein Brustkorb sich anfühlte, als würde er bersten. Jede Nacht quälten ihn Albträume, Bilderfluten aus vergessen geglaubten Erinnerungen und dunklen Vorahnungen. Zwei Wochen nach ihrem ersten Gespräch sagte Blaise, er habe keinen Grund mehr, seine Einschätzung, dass in Raouls Lunge ein fressendes Geschwür wachse, zu ändern. Raoul hatte selbst nicht mehr daran geglaubt, trotzdem überkam ihn danach eine abgrundtiefe Verzweiflung. Eine leise Hoffnung war geblieben, alles könne sich doch noch als Irrtum erweisen, doch nun war es eine unumstößliche Tatsache: Ein halbes, höchstens ein Jahr blieb ihm noch.
Zwei Tage schloss er sich in seinem Zimmer ein, aß nichts, schlief kaum, dämmerte dahin.
Ich erlebe nicht mehr, wie Jean Page wird. Gerard als Knappen erlebe ich auch nicht mehr. Nur noch einen Sommer, ein Osterfest, ein Weihnachten. An meinem dreißigsten Namenstag bin ich vielleicht schon ein halbes Jahr unter der Erde …
Irgendwann, es war Nacht, verließ er das Haus. Er wusste, dass er ein Mitleid erregendes Bild abgab, unrasiert und hohlwangig wie er war, in verschwitzten Kleidern, die er seit Tagen ununterbrochen trug, und war froh, niemandem zu begegnen. Er schob sich durch die Lücke im Zaun und ging über den Acker, zu
Weitere Kostenlose Bücher