Der Gesandte des Papstes
einem Pfad, der sich zwischen Felsen und Buschwerk den Hang hinaufwand. Wolken verdeckten die Sterne, und es war so dunkel, dass er kaum etwas sah. Aber er kannte den Weg gut.
Auf der Hügelkuppe erstreckte sich eine Wiese bis zum Waldrand. Hohes, regenfeuchtes Gras strich Raoul um die Beine, als er zu dem Stein ging, der das Grab seiner Eltern markierte. Gerard von Bazerat und Christine von Bazerat, In manus tuas, Domine, stand darauf. In der Dunkelheit war die Schrift nicht zu sehen. Raoul kniete nieder und bat seine Eltern stumm um Verzeihung für sein heruntergekommenes Aussehen.
Seine Mutter war eine schöne, fröhliche Frau gewesen, die sich das Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte und einen unerschöpflichen Vorrat an Liedern und Geschichten besaß. Sie war jung gestorben, an einem Fieber, das ihren zierlichen Körper so sehr auszehrte, bis ihr Herz vor Erschöpfung aufhörte zu schlagen. Es war ihr letzter Wunsch gewesen, auf diesem Hügel begraben zu werden, unter sich das Tal, in dem sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Raouls Vater hätte wegen seiner Verdienste im Heiligen Land in der Cathédrale St-Etienne in Metz seine letzte Ruhestätte finden können, doch er wollte neben seiner Frau liegen, die Gott ihm so früh genommen hatte.
Raoul war schon lange nicht mehr hier gewesen. Er dachte oft an seine Eltern, trotzdem kam er nur ungern zu ihrem Grab. Es führte ihm vor Augen, dass alles, was er noch von ihnen hatte, Erinnerungen waren und dass sie für immer fort waren.
So wie ich es bald sein werde, dachte er. Wer würde sich an ihn erinnern, wenn sein Tod erst einmal einige Jahre zurücklag? Jacques, Lysanne und Blaise. Jean und Gerard, aber sie waren noch jung. Für sie wäre er bald nur noch ein Schatten in ihrem Gedächtnis. Onkel Raoul? Er hat mir Bogenschießen beigebracht, nicht wahr? Nein, ich weiß nicht mehr, wie er aussah …
Diese fünf, mehr nicht. Keine Ehefrau, keine Kinder, keine Weggefährten aus Kriegen. Und woran würde man sich erinnern? Die Liste seiner Taten war kurz. Ein unwichtiger Feldzug gegen Raubritter, denen früher oder später ohnehin Winter und Hunger ein Ende gemacht hätten. Alles, was sein Leben
ausgemacht hatte, Liebeleien mit Töchtern von Bauern und fahrenden Händlern, der Sieg bei einem Turnier, bedeutete auf einmal nichts mehr. Wie viel wertvoller war da Jacques’ Leben! Er hatte zwei Söhne gezeugt, die einmal Ritter des Herzogs werden und dafür sorgen würden, dass der Name von Bazerat weiterlebte. Er hatte die Ländereien der Familie vergrößert und neue Äcker angelegt, die die Bewohner des Tals ernährten. Oder sein Vater! Ein Kreuzritter, der bis ans Ende der Welt gereist war, um die Christenheit in Palästina mit seinem Leben zu verteidigen. Und dabei klüger geworden war, weil er begriffen hatte, dass es falsch war, das Wort Gottes mit dem Schwert zu verbreiten. Sie beide hatten Spuren hinterlassen, die einer Erinnerung würdig waren. Und Raoul? Nichts davon. Vergeudete Jahre voller Sünden und Belanglosigkeiten.
Und jetzt war seine Zeit beinahe vorbei.
Raoul schaute den verwitterten Grabstein an. Was soll ich tun, Vater? Er spürte die Tränen auf seinem Gesicht und hasste sich dafür.
Einige Tage später wusste er die Antwort. Er kam von einem langen Ausritt zurück und ging zu seinem Bruder, der in seinem Gemach Schriftstücke durchsah. Als Jacques die Tür hörte, blickte er auf. Das lange Haar hatte er am Hinterkopf zusammengebunden. Er sagte nichts. Seit ihrem Streit hatten sie nicht miteinander gesprochen.
»Was machst du?«, fragte Raoul.
»Die Urkunden unserer Pächter ordnen. Die Steuer ist bald fällig.«
Raoul nickte und setzte sich zu Jacques an den Tisch. Er fühlte sich unwohl. Sie stritten oft und vertrugen sich in kurzer Zeit wieder. Aber es war noch nie vorgekommen, dass sie sich tagelang aus dem Weg gingen.
»Ich gehe fort, Jacques«, sagte er langsam. »Ich verlasse Bazerat.«
Jacques legte die Pergamente beiseite. Er war überrascht. »Weswegen? Was hast du vor?«
»Ich gehe nach Rom. Ich will an den Gräbern der Apostel um die Vergebung meiner Sünden bitten.«
Sorge blitzte in den Augen seines Bruders auf. Falls er noch zornig auf Raoul gewesen war, so war es augenblicklich vergessen. »Der Weg nach Rom ist weit und nicht ohne Gefahren. Hast du dir das gut überlegt?«
»Schau mein Leben an, Jacques«, sagte Raoul bitter. »Siehst du daran irgendetwas, das eines Ritters würdig
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