Der Gesandte des Papstes
Unruhen jedoch nichts zu tun hatten - und zweitens, dass der Kardinal der einzige Mann weit und breit war, mit dem er ein erbauliches Gespräch führen konnte.
Den Rest des Vormittages lenkte Morra sich von seinen düsteren Gedanken ab, indem er in der Bibel las. Gegen Mittag schreckte ihn das Klappern von Hufen auf - ein für diese Tageszeit ungewöhnlicher Lärm. Normalerweise war es in der Festung zur Mittagsstunde fast so still wie nachts, denn die Krieger durchstreiften die Berge und würden erst bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehren.
Morra legte die Schrift beiseite und trat auf den Vorbau. Seine Augen, an die kleinen Buchstaben gewöhnt, schmerzten im hellen Licht. Ein mongolischer Reiter war soeben angekommen. Er stieg aus dem Sattel, ließ sein Pferd bei den Sklaven und eilte zu Natsagiin, der ihn an der Pforte zur inneren Festung erwartete. Der Befehlshaber nahm ein Schriftstück entgegen, das er an Ort und Stelle entrollte und las. Der Inhalt schien nicht umfangreich zu sein, denn nach wenigen Augenblicken rollte Natsagiin die Nachricht wieder zusammen, rief einen Wächter vom Torhaus zu sich und gab ihm knappe
Anweisungen. Der Soldat lief zu einigen Männern, die im Giebelschatten dösten. Kurz darauf preschte ein halbes Dutzend Reiter aus dem Tor.
Boten für die Reiterwache, dachte Morra. Bevor Natsagiin ihn sehen konnte, ging er wieder hinein.
Seine Vermutung war richtig. Etwa anderthalb Stunden nach dem Eintreffen der Nachricht kam die erste Wache zurück, die anderen im Lauf des Nachmittags, bis der Lärm von hundertachtzig Kriegern von den Felswänden widerhallte. Morra rief Simone und die anderen zu sich. Etwas ging vor sich. Falls etwas passieren sollte, war es besser, wenn die Soldaten in seiner Nähe waren.
Die Mongolen stellten die gesamte Festung auf den Kopf und bepackten ihre Pferde mit Ausrüstung.
»Sie brechen auf«, stellte Simone fest, der neben Morra auf dem Vorbau stand.
»Und wir? Was geschieht mit uns?«, fragte ein anderer Soldat, der trotz seiner höchstens fünfundzwanzig Jahre schon schütteres Haar hatte. Sein Name war Alessandro.
Die Vorbereitungen zum Aufbruch wurden in Eile getroffen. Morra bezweifelte, dass sich die Mongolen bei dem Ritt, der vor ihnen lag, mit unwichtigen Gefangenen belasten würden. »Abwarten«, murmelte er.
Die Männer begannen, noch einmal sämtliche Fluchtpläne zu besprechen, die sie in der vergangenen Woche ent- und wieder verworfen hatten. Dabei stand fest: Flucht war aussichtslos, selbst wenn es ihnen gelänge, Wachen und Mauern zu überwinden. Ohne ihre Pferde, die sich für sie unerreichbar in den bewachten Ställen befanden, kamen sie keine Meile weit.
Der hitzige Wortwechsel verstummte jäh, als die Tür geöffnet wurde und Natsagiin hereintrat. Zum ersten Mal, seit Morra ihn kannte, trug der Mongole etwas anderes als ein Seidengewand: einen Lamellenpanzer, eine spitze Stahlhaube mit ledernen Ohr- und Nackenschützern und beschlagene Armund
Beinschienen. Am Gürtel hingen sein Säbel und zwei gekrümmte Dolche.
»Draußen stehen eure Pferde«, sagte er. »Ich will, dass ihr bis Sonnenuntergang von hier verschwunden seid.«
»Das heißt, wir sind frei?«, fragte Morra.
»Ja. Unter der Bedingung, dass ihr das Land auf dem schnellsten Weg verlasst.«
Morra musterte Natsagiin, konnte aber keine Anzeichen entdecken, dass sich der Mongole einen Scherz mit ihm erlaubte. »Warum tut Ihr das?«
»Weil ich Euch mag, Morra.« Er lächelte flüchtig. »Aus Nächstenliebe.«
»Und wenn wir Armenien nicht verlassen? Was dann?«
Natsagiin lächelte weiter, doch in seine Augen trat ein wölfischer Glanz. »Reitet, Morra. Wenn Ihr Euch beeilt, könnt Ihr die Grenze noch heute erreichen.«
Andranik führte sie einen Kamm entlang, der links und rechts steil und zerklüftet abfiel. Das Gelände zwang sie, in einer langgezogenen Reihe zu reiten; nach dem Armenier kamen erst Matteo, dann Jada und Raoul, der hinter der Ägypterin auf dem Araber saß. Das goldene Licht der Abendsonne zeichnete lange, scharfe Schatten.
Jada hatte den ganzen Tag über kaum ein Wort gesprochen, trotz - oder gerade wegen - der unfreiwilligen Nähe zu Raoul. Seit dem Vorfall in der vergangenen Nacht war sie wieder so abweisend wie zu Beginn der Reise. Raoul hatte versucht, mit ihr darüber zu sprechen, doch sie verschloss sich ihm. In der nächsten Siedlung, die sie erreichten, würde er sich ein neues Pferd kaufen. Einen weiteren Tag ihrem Schweigen ausgesetzt
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