Der Gesandte des Papstes
den Seiten blätterte. Morra hatte sich oft gefragt, welcher Religion dieser Mann angehörte, aber bis jetzt konnte er nur mit Sicherheit sagen, dass er weder Christ noch Muslim war. Nicht, dass es für seine Lage eine Rolle gespielt hätte.
»Man sollte meinen, dass es mit Hilfe der beiden Bücher möglich sein sollte, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Christen und Muslimen auszuräumen. Aber genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein, nicht wahr? Die zahllosen Gemeinsamkeiten werden zu Gunsten der kleinen Unterschiede übersehen.« Der Mongole sah ihn an. »Ihr seid so schweigsam. Langweile ich Euch?«
»Ich weiß nicht, worauf Ihr hinauswollt«, erwiderte Morra knapp.
»Muss man immer auf etwas hinauswollen?«, fragte Natsagiin lächelnd. Dann blätterte er wieder in der Schrift. »Ständig ist hier die Rede von ›Nächstenliebe‹. Ich kenne dieses Wort nicht. Würdet Ihr mir erklären, was es damit auf sich hat?«
Herr, sei mir gnädig, dachte Morra müde. Er nahm einen großen Schluck Tee. »Es ist die Pflicht jedes Christen, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst.«
»Auch wenn er ein Feind ist?«
»Besonders, wenn er ein Feind ist.«
»Also liebt Ihr auch mich?«
Zorn stieg in Morra auf. Er zwang sich zur Ruhe. »Ja, ich liebe auch Euch.«
Der Kommandant klappte die Bibel zu und legte sie neben sich. »Ich habe den Eindruck, dass Ihr mich heute Morgen nicht besonders liebt.«
»Ich möchte wissen, wann Ihr mich endlich gehen lasst.«
»Ihr kennt meine Antwort. Wenn der Aufstand der Armenier niedergeschlagen ist.« Natsagiin füllte seine Platte mit kandierten Orangen und Äpfeln.
»Und wann wird das sein?«, fragte Morra unwirsch.
»Ich weiß es nicht. In einigen Monaten. Vielleicht auch erst in zwei Jahren.« Der Mongole griff nach der Kanne und lächelte Morra an. »Noch etwas Tee?«
Nach dem Morgenbrot kehrte Morra in seine Kammer zurück. Er legte sich auf sein Schlaflager aus Fellen und groben Wolldecken und starrte an die Decke, die wie Boden und Wände aus rußfarbenem Stein bestand. Seine Stimmung war durch das Gespräch mit Natsagiin noch düsterer geworden. Zwei Jahre … Er war erst acht Tage hier und verabscheute diesen Ort am Ende der Welt schon jetzt. Nicht wegen der Eintönigkeit - er hatte viele Jahre seines Lebens in Klöstern verbracht und war an gleichförmige, ereignisarme Tage gewöhnt. Aber zur Untätigkeit verurteilt zu sein, war unerträglich.
Er dachte an den Traum der letzten Nacht. Er war durch die dämmrigen Gänge und Zimmerfluchten des Lateranpalasts gewandert, ohne Ziel, Stunden, Tage. Wind wehte Staub und vertrocknetes Laub durch die Fenster. Das Porphyr war stumpf, die Statuen waren gesichtslos, die Wandteppiche zerbröckelten, wenn er sie berührte. Nirgends eine Menschenseele. Sieh dich um, flüsterte es aus den Schatten. Das ist deine Schuld. Du hättest es verhindern können.
Noch gestern hatte er geglaubt, dass er die Mameluckenkrieger einholen konnte, wenn ihn die Mongolen bald gehen ließen. Doch als er in der Morgendämmerung auf den kleinen Vorbau getreten war und die Berge um die Festung betrachtet hatte, war ihm klar geworden, dass er sich das einredete. Das Hochland war endlos. Selbst wenn er durch seine Gefangennahme nicht meilenweit vom eigentlichen Weg abgekommen wäre, selbst wenn es in den Tälern nicht von Mongolen gewimmelt hätte, wäre es schwierig geworden, nach einer Woche die Spur der Mamelucken wiederzufinden. So, wie die Umstände jetzt waren, hatte er nicht die geringste Aussicht auf Erfolg.
Es wurde Zeit, sich damit abzufinden, dass das Zepter verloren war - dass er versagt hatte.
Wenigstens wurden sie nicht wie Gefangene behandelt. Simone und die anderen Waffenknechte bewohnten Kammern im Keller des Hauptgebäudes, durften sich innerhalb der Festungsmauern frei bewegen und wurden von den Mongolen in Ruhe gelassen. Morra selbst hatte ein Zimmer neben den Gemächern Natsagiins bekommen, dessen Sklaven dafür sorgten, dass es ihm an nichts mangelte. Natsagiin war ein Edler seines Volkes, ein gebildeter Mann, der hier oben in den menschenleeren Bergen, umgeben von einer Horde Dummköpfen, vor Langeweile schier zugrunde ging. Sein Befehl lautete, das Ausbreiten des Aufstands in den Westen zu verhindern. Ein anderer Befehlshaber hätte Morra und seine Leute für bewaffnete Aufrührer gehalten und kurzen Prozess mit ihnen gemacht; Natsagiin dagegen hatte erstens erkannt, dass seine Gefangenen zwar Christen waren, mit den
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