Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
Nummer. »Abu Amar, wir haben doch ausgemacht, dass ich dich nach Gaza begleite …« Arafat reagierte unwirsch. »Was meinst du, wie es hier zugeht. Meine Brüder im Zentralkomitee machen mir Vorwürfe, es hagelt Kritik von allen Seiten …« Tatsächlich durchlebte er ungemütliche Zeiten, die Kämpfe im Zentralkomitee waren noch lange nicht ausgestanden. »Vergiss die anderen«, unterbrach ich ihn, »ich rede von mir.« – »Gut«, sagte er, »dann treffen wir uns in Kairo.« – »Wann?« – »Morgen.« Also heute. Ich besorgte mir umgehend einen Flug nach Rom und einen Anschlussflug nach Kairo, wo ich um 11 Uhr vormittags landete, noch vor Arafat.
Nachdem auch er eingetroffen war, folgten wir einer Essenseinladung,
die Präsident Mubarak ausgesprochen hatte. Anschließend flogen wir in seiner Maschine mit ihm nach El Arish, wo wir in Autos umstiegen, die uns nach Rafah brachten, und am Nachmittag des 1. Juli 1994 betraten wir den Boden des freien Palästina. Womit ich nicht gerechnet hatte: Ein Großteil meiner Familie erwartete mich in Rafah. Sie waren in zwei Bussen angereist, um mich abzuholen, und nun konnte ich natürlich nicht anders, als den Rest der Strecke bis Gaza mit ihnen zurückzulegen.
Von nun an bewegten wir uns durch ein Spalier aus palästinensischen Fahnen und riesigen Arafat-Porträts. Erregte Menschen säumten den Straßenrand. Wer glaubte an diesem Tag nicht, zu träumen? Siebenundzwanzig Jahre lang hatte jeder mit schweren Strafen rechnen müssen, der eine palästinensische Flagge hisste; nun war der Gazastreifen in Grün, Weiß, Schwarz und Rot getaucht. Eine ganze Generation von Palästinensern erfuhr an diesem Tag zum ersten Mal in ihrem Leben, was Freiheit ist, und auch mir weitete sich das Herz, auch ich sog begierig die kostbare Luft der wiedererlangten Freiheit ein. In Gaza angekommen, besuchte ich als Erstes das Grab meines Vaters, bevor ich nachmittags zu der Großveranstaltung ging, auf der Arafat sprechen sollte.
Es war ein furchtbar heißer Tag, die Luftfeuchtigkeit außerordentlich und der Andrang gewaltig – schätzungsweise 100 000 Menschen hatten sich unter der glühenden Sonne auf der riesigen Freifläche am Stadtrand von Gaza versammelt. Als Arafat erschien, gab es für sie kein Halten mehr, die Menge durchbrach die Absperrungen, ließ sich auch von dem Polizeicordon vor der Tribüne nicht aufhalten und machte ihrer Begeisterung ein ums andere Mal in Sprechchören Luft. Ich hielt mich am Rande. Durchgeschwitzt und übermüdet, wie ich war, bekam ich von Arafats Rede wenig mit, schloss mich aber Arafats Mannschaft an, als man anschließend zur ersten Sitzung in ein Hotel fuhr.
An der Stirnseite des Saales waren Tische hufeisenförmig aufgestellt. In der Mitte, flankiert von den Mitgliedern des Zentralkomitees, saß Arafat. Ich nahm rechts außen Platz. Etwa 150 Fatah-Funktionäre füllten den Saal. Als Arafat zu sprechen begann, wirkte er euphorisch, berauscht von der Aussicht auf einen Neubeginn. Er stand auf, lief gestikulierend hinter dem Tisch auf und ab, erinnerte in beschwörenden Worten an das Schicksal seines Volkes, rekapitulierte die atemberaubende Entwicklung der letzten Monate, brachte seine Freude darüber zum Ausdruck, nach so vielen Jahren endlich dem Ziel so nahegekommen zu sein, ging dann zu den Herausforderungen der Zukunft über und ließ eine kühne Vision auf die andere folgen. »Die Zeit ist gekommen«, sagte er. »Wir werden aus Gaza ein zweites Singapur machen! Wir werden uns mit aller Kraft dem Aufbau des Westjordanlandes widmen! Wir werden zu einem Staat kommen, um den uns andere arabische Völker beneiden werden!« Und wie er so auf und ab ging, auf seine Zuhörer einredend, beinahe deklamierend, musste ich an Napoleon Bonaparte denken. Ich sah Napoleon vor mir, wie er in einem historischen Augenblick große Worte für die neuen Aufgaben einer neuen Zeit findet.
Als Arafat zum Schluss gekommen war, meldete sich unter den Zuhörern ein junger Mann zu Wort, ein groß gewachsener, sportlicher Typ, der nun mit beträchtlichem rhetorischem Talent die Fortschritte der jüngsten Vergangenheit so auslegte, als hätten wir Israel mit Waffengewalt zum Nachgeben gezwungen, als wäre das Oslo-Abkommen ein Ergebnis unserer militärischen Erfolge. Er erhielt großen Beifall dafür, und mit einem Mal entstand im Saal eine Stimmung zugunsten der Fortsetzung des militärischen Widerstands, was im krassen Widerspruch zu Arafats Absicht stand, die
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