Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
Frau, nach meinen Freunden, auch nach diesem Land und seinen Menschen. Bis heute geht es mir so.
Dem nahöstlichen Drama einstweilen entkommen, hatten wir Palästinenser jedenfalls Grund zum Aufatmen und entdeckten die Unbekümmertheit, die Leichtigkeit des Seins, die sich für mich auch mit folgender Episode aus der Frankfurter Anfangszeit verbindet.
Binnen kurzem hatten wir uns zu leidenschaftlichen Kinogängern entwickelt. Wir waren auf Filme versessen und gingen an manchen Tagen schon mittags ins Kino; besonders beliebt waren bei uns italienische Filmkomödien wie »Scheidung auf Italienisch« mit Marcello Mastroiani oder »Hochzeit auf Italienisch«, ein Film, den man sich schon wegen Sophia Loren nicht entgehen lassen durfte. Einmal hatte jeder von uns vor der Vorstellung eine große Tüte Pommes frites gekauft und war nach der halben Tüte satt. Ins Kino wollten wir sie nicht mitnehmen, also stellten wir sie auf einem Papierkorb ab, der an einem Laternenmast hing – vielleicht würde sich ein armer Schlucker des Rests erbarmen. Nun, die armen Schlucker waren wir selbst. Als wir aus dem Kino kamen, hatten wir wieder Hunger, aber kein Geld mehr. »Und unsere Tüten von vorhin?«, sagte Amin. Sie standen noch da. In einem unbeobachteten Augenblick haben wir sie wieder einkassiert und doch noch geleert.
Sobald ich des Deutschen mächtig genug war, las ich Karl May. Die Indianergeschichten interessierten mich weniger, ich war vielmehr neugierig darauf, welches Bild der damalige Lieblingsschriftsteller der Deutschen seinen Lesern von den Arabern vermittelte, las also Durch die Wüste und ähnliche
Bände – und war verblüfft. Ich wollte nicht glauben, dass Karl May diese Länder nie gesehen hatte. Die Schauplätze, die Sitten, die Charaktere, das arabische Leben insgesamt – alles war stimmig und treffend beschrieben und überdies in einer leichten, flüssigen Sprache erzählt. Das Einzige, was mich störte: Hier und da schimmerte eine leichte Überheblichkeit durch. Aber dieser Ton kennzeichnete, wie ich später merkte, fast alle Bücher, die zu Ende des 19. Jahrhunderts von Europäern über den Orient geschrieben wurden. Die Europäer hielten sich eben doch für ein wenig besser. Allerdings hatten diese Schriftsteller die Araber auch in einer Phase der Ermattung erlebt und glaubten, Trägheit und Fatalismus seien typische Merkmale des orientalischen Menschenschlags. Mich haben Verallgemeinerungen, die mein Volk betrafen, immer genauso verärgert wie jene amerikanischen Filme, in denen Deutsche nur als stumpfsinnige Nazis vorkamen. Ich konnte mir solche Filme nicht ohne unterdrückte Wut anschauen, und deshalb irritierte mich, was ich eines Tages mit meinem Nachbarn Hans erlebte.
Hans war etwa gleichaltrig, ein netter, sportlicher Mensch, wir spielten Fußball zusammen. Einmal saßen wir in einem Film, der in der erwähnten Art über die Deutschen herzog – dauernd flogen Arme zum Hitlergruß in die Luft, dauernd brüllte irgendeiner »Heil Hitler!« Hinterher fragte ich Hans, ob er das nicht empörend finde. »Nein«, sagte er. »Es stimmt ja. So war es.« – »Was stimmt?«, wollte ich wissen. Daraufhin rekapitulierte er die jüngere deutsche Geschichte, und ich verstand, dass er alles, was bis 1945 geschehen war, aus einer tief sitzenden Scham in Bausch und Bogen verurteilte. Seine Reaktion war für mich unbegreiflich; ich brauchte noch einige Jahre, bis mir klar wurde, in welchem Maße die Deutschen an ihrer Geschichte litten. Hans jedenfalls verstummte bald und wollte dieses Thema auch später nicht mehr berühren – was für mich nicht nachvollziehbar war, erschien ihm als einzig
mögliche, da moralisch gebotene Haltung. Und ich machte noch weitere erstaunliche Erfahrungen.
Am Studienkolleg, wo ich meine Sprachkenntnisse verbesserte, wurden wir von einem kriegsversehrten Lehrer unterrichtet, dem man ein Bein amputiert hatte. Gleich zu Anfang bat er mich, einen Vortrag über Palästina zu halten. Das tat ich. Anschließend kam er auf mich zu und deutete auf sein Holzbein. »Siehst du das?«, sagte er. »Das habe ich im Krieg verloren. Und mit welcher Begeisterung bin ich in diesen Krieg gezogen …« Er beschwor mich, mir jeden Gedanken an Gewalt, Kampf und Krieg aus dem Kopf zu schlagen. »Als Arzt bist du für deine Heimat wertvoller denn als Freiheitskämpfer. Und mit zwei Beinen nützlicher als mit einem.« Wahrscheinlich ahnte er nicht, wie fremd mir auch dieses Denken war.
Solche
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