Der Gesandte - Mein Leben fuer Palaestina Hinter den Kulissen der Nahost-Politik
bekommen hatte. Als sich der Zug nach Lüneburg in Bewegung setzte, beobachtete ich durchs Abteilfenster, wie im selben Moment der Sekundenzeiger der Frankfurter Bahnhofsuhr um eine Sekunde über die fahrplanmäßige Abfahrtszeit vorrückte. Ich war fasziniert. Keine Sekunde zu früh, keine Sekunde zu spät rollten wir aus dem Bahnhofsgebäude. So etwas hätte ich für unmöglich gehalten. Dann die Sauberkeit der Waggons. Die Fahrgäste, die sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. Und niemand, der einem anderen seinen reservierten Platz streitig machte, wie das im Zug von Gaza nach Kairo gang und gäbe war. Oder im Zug von Kairo nach Alexandria. Ich kam mir vor wie auf einem anderen Stern, und ich begann, das Leben auf diesem Stern aufzusaugen wie ein Schwamm.
Im tief verschneiten Lüneburg zog ich bei der Familie Döbbelin ein – Vertriebene wie ich, Leute aus dem ehemaligen Osten
Deutschlands. Zwei Monate lang lernte ich tagsüber mit anderen im Goethe-Institut und abends auf meinem Zimmer bei den Döbbelins. Frau Döbbelin, eine korpulente, resolute Person, half meinen Studien nach, indem sie sich neben ihrem arabischen Schützling aufbaute und nicht lockerließ, bis er ihr folgenden Satz fehlerfrei nachsprechen konnte: »Die … deutsche … Sprache … ist … eine … schweeere … Sprache.« Ja, Deutsch war keine leichte Sprache, aber die Hürden sind im Arabischen doch höher. Im Übrigen fand ich die deutsche Sprache eher schön als schwer, was mir das Lernen erleichterte.
Andere hätten sich an der leicht pedantischen Art, in der Frau Döbbelin mir auf die Sprünge zu helfen versuchte, vielleicht gestört. Ich nicht. Mir wäre es nicht eingefallen, ihr solche kleinen Eigenheiten anzukreiden, weil bei mir von Anfang an die Dankbarkeit dafür überwog, von den Deutschen gut, ja herzlich aufgenommen zu werden. Das traf vor allem auf die eine Hälfte der Deutschen zu, die weibliche.
Es begann schon im Zug nach Lüneburg. Mein Blick fiel bald auf eine junge Frau in der anderen Ecke des Abteils. Er wurde erwidert. Und dann geschah das Unglaubliche: Sie setzte sich neben mich und begann eine Unterhaltung. Vollkommen ungezwungen. In Gaza absolut undenkbar. Am Ende tauschten wir unsere Adressen aus, aber das war nur der Auftakt. Unter den Nachbarskindern in Lüneburg waren jede Menge Mädchen, und kaum hatte sich herumgesprochen, dass ein Araber bei den Döbbelins eingezogen war, lauerten sie mir auf. Vier Namen habe ich mir gemerkt: Angelika, Elisabeth, Hannelore und Heidi. Elisabeth war die fleißigste. Sie half mir beim Deutschlernen, sie besuchte mich fast jeden Abend, und sonntags nahm sie mich zum Schlittenfahren mit. Dann kaufte ich mir ein Fahrrad, landete beim Linksabbiegen auf der Kühlerhaube eines Autos und lernte im Krankenhaus Schwester Ingeborg kennen. Erst pflegte sie mich
gesund, dann erschien sie zu später Stunde auf meinem Zimmer. Frau Döbbelin ließ sie ins Haus, nicht ohne ihr einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Nach neunzehn Jahren kulturell bedingter Keuschheit ging mir alles etwas zu schnell, und Ingeborg sah die Lösung merkwürdigerweise in einem nächtlichen Spaziergang. In der Nähe des Bahnhofs erstreckte sich eine große, schneebedeckte Freifläche; hinten bei den Gleisen dirigierte ein Mann im Licht greller Scheinwerfer einen Rangiervorgang, und im nächsten Augenblick zog sich Ingeborg splitternackt aus, griff in den Schnee und rieb sich damit ab … Ein faszinierendes Land, dieses Deutschland. Ich tat es ihr nach, ohne allerdings so weit wie sie zu gehen.
In kürzester Zeit lernte ich viele Gleichaltrige kennen, auch solche männlichen Geschlechts, die mich zum Schwimmen oder Fußballspielen mitnahmen, und Anfang Februar kehrte ich nach Frankfurt zurück, wo dieselbe Atmosphäre freundlichen Entgegenkommens herrschte. Nein, ich machte von Anfang an nur gute Erfahrungen in dieser neuen Welt.
Das Deutschland der frühen 60er-Jahre war allerdings auch ein völlig anderes Land als das Deutschland der Gegenwart. Man war noch nicht die kraftstrotzende Großmacht, die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wirkten noch nach, die Deutschen waren in ihrem Lebensstil einfach und in ihrem Auftreten das Gegenteil von überheblich. Ich machte also die Bekanntschaft eines sympathischen Volks, für das mir heute Worte wie tolerant, aufmerksam, zurückhaltend, offen und hilfsbereit einfallen. Gleichgültig, mit wem ich sprach, ob in der Universität oder an der Bushaltestelle, immer
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