Der Gesang der Haut - Roman
schlenderte die Straße entlang, die Autoschlüssel in der Hand, und drückte auf die Automatik, bis es bei ihrem Auto blinkte. Ein Knöllchen. Sie war zu lange bei Viktor geblieben oder zu lange in der Boutique. Sie bereute weder das eine noch das andere. Das Knöllchen war ein Beweisstück ihrer kleinen Augenblicke des Glücks. Viktor. Warum hatte sie übrigens die Rolle der blasierten Ernüchterten gespielt? Kommen Sie mir nicht wieder mit der Liebe … das Leben ist schwarz-weiß, lieber Viktor. So ein Blödsinn. Wollte sie ihn mit ihrer Pseudo-Menschenkenntnis beeindrucken? Fix-und-fertig-Gedanken, Gedanken to go.
Sie nahm das Knöllchen von der Windschutzscheibe und steckte es in das Handschuhfach wie in eine Schatulle.
(Moira)
A n diesem Punkt der Geschichte angelangt, lässt du nichts mehr von dir hören. Du arbeitest viel. Du hast dich endlich mit Doktor Hettsche getroffen und dich mit ihm über eine Apparategemeinschaft ausgetauscht. Der sachliche und freundliche Doktor Hettsche spricht über Patientenzahlen, über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit, Doktor Gerlachs Name wird nur kurz erwähnt, eine Knappheit, die dir als gewollt erscheint. Doktor Hettsche beschreibt die Bevölkerung eures Viertels als treue Patienten, veraltet und verarmt, geprägt von Sozialproblemen und psychosomatischen Erkrankungen. Ihr trennt euch nach anderthalb Stunde und du gehst erleichtert und ermuntert aus der Praxis des Kollegen (wie sehr du noch der Stärkung der Älteren bedarfst!), Arzt bis in die Fingerspitzen. Das Private und Henriettas Besuch werden einen gesegneten Augenblick lang ausgeblendet. Genieß sie, Viktor, diese Leichtigkeit des Mannes, der in seiner Berufswelt friedlich aufgeht, sie wird nicht von Dauer sein. Gerlachs Dramen bringen dich nicht aus der Fassung, sie betreffen dich nicht, glaubst du. Du bist fair und wirst das sündhafte Geheimnis des Älteren für dich behalten, auch wenn es dir schwer fällt, mit Klara eine neue Art Komplizenschaft der Eingeweihten nicht einzugehen.
Ich indessen (dies als Nebenhandlung, das Leben besteht nun mal aus Nebenhandlungen) entscheide, die Mütter dieser Welt mit ihren Söhnen zu versöhnen und fange mit meiner Schwiegi an. Ich warte nicht auf ihre Genehmigung, um meinen Ex und seinen Stiefsohn einzuladen, und backe einen super Fertigmischung-Kuchen mit Zitrone. Die Frau, mit der Philip-Leander jetzt lebt, hat nämlich ein Kind aus einer früheren Beziehung, Vater unbekannt, auch dies gefällt Frau Hirsch nicht. Es schellte und als ich öffnete wurde ich von einem Maschinengewehr ins Visier genommen und eine schrille dünne Stimme brüllte: Trtrtrtrtrtr, du bist tot! Schüüü, surrte mein Ex. Der süße Ekel meiner Rivalin muss fünf Jahre alt sein. Ich bin unsterblich, sagte ich ihm und gab dem Ex einen Kuss auf die Wange (es zwickte doch in der Herzgegend, als ich seinen Geruch erkannte), kommt rein. Selbstverständlich hätte ich Philip mit seiner Frau einladen können, ich mag es aber nicht, meine Großzügigkeit zu dick aufzutragen, und rein filmisch gesehen, ist sein Auftritt mit dem jungen Terroristen aufregend genug. Gisela ist reif für eine Begegnung mit ihrem Sohn, ich spüre es schon allein an ihrer Art, sich die Unterarme blutig zu kratzen, sie hat noch keinen Enkel, und das Ekelkind könnte einen Anfang machen. Dies alles habe ich mir sorgfältig überlegt, und ich sage jetzt zu Patrick: Bei uns werden Waffen an der Garderobe abgegeben. Philips Mama liebt den Frieden über alles. Alles klar? Klaro!, antwortet der Killer. Sind alle Neger unsterblich? Sicher hast du bemerkt, dass der Ex noch kein Wort gesprochen oder höchstens vor seinem Chüüüü ein ebenfalls lautmalerisches Hallo ausgehaucht hat, das man ihm nur von den Lippen lesen konnte. Er betrachtet sich im Garderobenspiegel, als bräuchte er dieses Kontemplationsminütchen, um sich in dem vertrauten Rahmen wieder zurechtzufinden. Ich rufe Gisela, kündige Besuch an und lasse sie alle drei verlegen (Philip), stutzig (der Junge), erschrocken (Gisela) stehen. Kaffee, Limo und Kuchen stehen auf dem Tisch! Ich wünsche einen guten Appetit.
Die Zofe geht in deinem Wald spazieren, insgeheim hoffend, dir zufällig zu begegnen, als glaubte sie an Zufall. Frische Bäume kritzeln schaudernd unsere Geschichte in den Himmel. Ich trinke gierig ihre grüne Tinte, stille auch meinen Durst am blauen Wind, an neuen Blumen. Der Wind zupft sanft an noch nackten Lärchen wie an gigantischen Zithern.
Weitere Kostenlose Bücher