Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
einen reifen Bariton. Ebenjenes Gottesgeschenk machte ihn zu einem erfahrenen Liebhaber und Verführer, einem seductus diaboli, neben dem ein Casanova wie ein pubertierender, geschwätziger Bub wirkte.
Raimondi, stolzer Spross italienischer Einwanderer in den Sechzigern, das Wunderkind eines Pizzabäckers, unterhielt bereits im Alter von zehn Jahren die Gäste mit Arien. Seine Karriere nahm in Würzburg ihren Ausgangspunkt und führte ihn schließlich an die großen Bühnen in Mailand, Salzburg, London und New York. Mehr als zwei Jahrzehnte lang galt sein Name als Synonym für Erfolg. Unbestritten, konkurrenzlos und gefeiert als der
Don Giovanni
. Niemand anderes konnte die komplexe Figur des berüchtigten spanischen Frauenhelden überzeugender und mitreißender ausfüllen als er.
Raimondi, der zwei Jahre zuvor seine Gesangskarriere beendet hatte, um sich fortan als Regisseur dem Musiktheater zu widmen, und einige viel beachtete Neuinterpretationen aufgeführt hatte, genau dieser Raimondi betrat soeben über den Bühneneingang das Mainfrankentheater.
Vorbei am Pförtner, der bereits vom Intendanten informiert war, trat der Mittfünfziger entschieden in den Gang und hielt auf die Bühne des Großen Saals zu. Ganz in schwarzes Leder gekleidet, schritt er voran, einem Edelmann aus lang vergangener Zeit gleich, sich seiner Fähigkeiten bewusst, die er zum Wohle der Stadt und seines Theaters verwenden wollte. Das grau melierte, schulterlange Haar nach hinten gekämmt, das Gesicht kantig, mit perfekt gestutztem schwarzem Bart und dunklen Augen, verkörperte er eine Art sinistrer Eleganz und Entschlossenheit, die keine Zweifel an seiner Person und seinem Vorhaben aufkommen ließen. Zwischen den beiden Stahltüren, die auf die Bühne führten, machte er Halt, prüfte sein Spiegelbild an der Wand, strich mit beiden Händen das Haar nochmals nach hinten zurück, atmete tief durch und betrat den Ort, an dem seine Karriere begonnen hatte.
Reichenberg, der Intendant, stand inmitten eines hell erleuchteten Halbkreises aus Solisten, Chorsängern und Mitarbeitern an der Produktion. Seine Stimme klang bestimmt, froh, das drohende Desaster einer gescheiterten Opernaufführung gerade noch abgewendet zu haben. Seine Zuversicht teilten allerdings nicht alle Anwesenden. Einige fragten sich, wer der unerwartet schnelle Ersatz für den verstorbenen Regisseur Sandner sein würde. Unter ihnen war auch die Donna Anna, Kayleen, zu deren Neugier sich auch Empörung gesellte.
Ihre Unterlippe zitterte, als sie aussprach, was sie vom Verhalten Reichenbergs hielt. »Fred ist noch keine vierundzwanzig Stunden tot, und du machst einfach weiter, als sei nichts geschehen.«
»Was hast du denn erwartet, Kayleen?«, rechtfertigte sich Reichenberg.
»Pietät. Etwas Anstand. So lange zumindest, bis wir uns von Freddie verabschiedet haben.«
»Dafür bleibt uns nicht die Zeit. Wir haben noch zwei Wochen.«
»Mir kommt es so vor, als hättest du es gar nicht erwarten können, dass sich Freddie das Leben nimmt.«
»Red keinen Unsinn.«
»Was ist in deinem Büro passiert? Sag schon, was war der Grund, weshalb sich Freddie erschossen hat?«
»Das weißt du genauso gut wie ich und jeder hier im Raum. Es musste etwas geschehen.«
»Ihn in den Tod treiben?«
»Das habe ich nicht.«
»Was denn sonst?«
»Ich hatte ihn gewarnt. Mehrmals. Bis eben der Krug brach.«
»Du hast ihn auf dem Gewissen, du Schwein.«
»Kayleen, es reicht. Noch ein Wort, und du fliegst.«
»Ha, das möchte ich sehen.«
»Überspann den Bogen nicht. Niemand ist unersetzbar. Selbst du nicht.«
»Wenn ich gehe, dann bin ich nicht die Einzige.«
Sich der Unterstützung weiterer Unzufriedener im Ensemble sicher, blickte sie nach beiden Seiten.
Aus dem Dunkel des Bühnenausgangs trat Raimondi ins Licht. »Oh, là, là, was wird denn hier gespielt?«
Reichenberg war erleichtert, dem Kräftemessen entgangen zu sein. Einladend streckte er die Arme aus, doch Raimondi wehrte die Umarmung ab.
»Francesco«, begrüßte ihn Reichenberg, »schön, dass du hier bist.«
Ein Raunen ging durch die Reihen. Francesco Raimondi in Würzburg? Die Überraschung war Reichenberg gelungen. Niemand hatte mit einem Weltstar gerechnet. Freudiges Staunen, aber auch Misstrauen spiegelte sich in den Gesichtern, es wurde getuschelt und spekuliert.
»Meine Damen und Herren, darf ich euch den neuen Regisseur für unsere
Don-Giovanni
-Inszenierung vorstellen – Francesco Raimondi. Er wird uns in den
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