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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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war und wir zu essen anfingen, kam mein Vater nicht. Langsam machte ich mir ernsthaft Sorgen um ihn. Außerdem ging mir Mrs Austin, die mir ein Gespräch aufgedrängt hatte, langsam auf die Nerven. Meine Gedanken kreisten um Javid. Aber der änderte sein Verhalten mir gegenüber auch nach der Rüge seiner Mutter nicht.
    Freda fragte Tyler nach seinem alten Großvater, der vor einer Woche in Port Angeles operiert worden war. Die Ärzte hatten ihm ein neues Hüftgelenk eingesetzt.
    Â»Ich glaube, es geht ihm nicht so toll«, sagte Tyler. »Den Eingriff hat er gut überstanden, aber er hasst Krankenhäuser. Großvater war noch nie in seinem Leben in einem Krankenhaus gewesen, und dass es ihm nun auf seine alten Tage passieren musste, hält er für ein schlechtes Zeichen.«
    Â»Ach was«, sagte Mrs Austin und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Warren hat seit drei Jahren ein künstliches Hüftgelenk und läuft wie ein junger Mann. Dein Großvater kommt schon wieder auf die Beine, es dauert eben nur ein bisschen.«
    Â»Das hoffe ich«, sagte Tyler und ich hörte, dass ihm ein Kloß im Hals saß.Mir kam der Verdacht, dass Javids Freund gar nicht so cool und großspurig war, wie er gerne tat. Aber das war nun auch egal, denn es änderte nichts an diesem verkorksten Abend.
    Â»Dein Großvater William ist ein wichtiger Mann für uns alle«, sagte Freda. »Vieles von dem, was er weiß, hat er noch nicht erzählt.«
    Â»Aber jetzt redet er auf einmal«, sagte Tyler leise. »Das macht mir ja solche Sorgen. Als ich ihn gestern besuchte, hat er stundenlang von den alten Zeiten erzählt. Was er sagte, klang irgendwie verrückt, aber das war es nicht. Ich weiß,dass mein Großvater ganz klar im Kopf ist.«
    Keiner sagte etwas, aber alle waren wir neugierig, was der alte Mann seinem Enkelsohn erzählt hatte. Und Tyler wusste das natürlich. Eine Weile schwieg er, als würde er überlegen, ob es richtig war, die alten Geschichten weiterzugeben, während drei Weiße zuhörten.
    Doch dann schien er zu dem Schluss gekommen zu sein, dass wir harmlos waren, und er fing an zu erzählen: von Walfangritualen und geheimen Männerbünden, von weißen Eroberern und Geistern der Makah. Schon nach kurzer Zeit lauschten ihm alle gebannt. Wir hörten Geschichten über Willawas, die gefürchteten Stürme aus dem Landesinneren. Tyler erzählte vom Häuptling Tageslicht, zu dem die alten Makah gebetet hatten.Und wir erfuhren die Geschichte vom großen Verwandler, einem Riesen in Menschengestalt, der zu Anbeginn der Zeit Tiere in Menschen und Menschen in Tiere verwandelt hatte.
    Â»Früher paarten sich Menschen und Tiere untereinander«, sagte Tyler McCarthy mit erstaunlich ruhigem Gesichtsaudruck. »Das war etwas vollkommen Natürliches. Und den großen Verwandler konnte man daran erkennen, dass er ein Loch in der Wange hatte, durch das er ständig pfiff.«
    Meinen Kummer, meinen Sonnenbrand, ja selbst meinen Vater hatte ich vollkommen vergessen, so spannend waren Tylers Geschichten. Als Papas Auto dann endlich vor dem Motel hielt, war es schon stockdunkel und Freda hatte die Außenbeleuchtung angemacht. Mein Vater kam nicht allein, er hatte jemanden mitgebracht. Eine Frau. Eine Frau mit blondem, langem Haar, die er uns als Lorraine Cook vorstellte. Sie war Reporterin und freie Mitarbeiterin des National-Geografic-Magazins.
    Es stellte sich heraus, dass Lorraine vor vielen Jahren schon einmal einen Bericht über die Makah geschrieben hatte, und nun sollte es eine Fortsetzung geben. Papa hatte sie im Regenwald kennen gelernt und ihr Fredas Motel als Unterkunft wärmstens empfohlen. Freda war sichtlich erfreut über den neuen Dauergast. Sie ging gleich mit Lorraine zur Rezeption, um die Formalitäten zu erledigen und ihr den Zimmerschlüssel zu übergeben.
    Den ganzen Abend hatte ich Lachs gefuttert wie ein hungriger Killerwal und stopfte nun Brot, Salat und Obst in mich hinein, als hätte ich tagelang nichts zu essen bekommen. Nur um Javid zu beweisen, dass ich nicht absichtlich so mager war. Schließlich war ich so voll gefuttert, dass ich mich kaum noch rühren konnte. Papa fragte mich, wie ich meinen Tag verbracht hatte, und ich erzählte ihm vom Museum und dass ich mit Javid im Waatch River schwimmen gewesen war. Er gab sich schnell zufrieden und ich hatte das Gefühl, als ob er

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