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Der Gesang des Wasserfalls

Der Gesang des Wasserfalls

Titel: Der Gesang des Wasserfalls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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Kapitel
    M adi konnte nicht wieder einschlafen, nachdem die Brüllaffen kurz vor der Morgendämmerung Alarm geschlagen hatten, sondern lag aufgeregt und aus irgendeinem Grund auch ein bisschen furchtsam im Bett. Beim ersten Morgenlicht hörte sie die Männer das Gas in der Küche anzünden. Sie schlüpfte leise von ihrer Pritsche, griff nach dem Eimer, der an der Hintertür stand, ging hinunter zum Fluss und tauchte ihn in das erfrischend kühle Wasser, um sich zu waschen.
    Beim Frühstück waren alle schweigsam, und Madi spürte, dass dies nicht nur an der frühen Uhrzeit lag. Es war eher eine nachdenkliche Stimmung, in der sich alle auf diesen besonderen Tag vorbereiteten.
    Connor bemerkte es auch. »Fast so, als würden sich Soldaten auf einen Kampfeinsatz vorbereiten«, flüsterte er Madi zu, während er eine Scheibe Toast aus dem alten metallenen Handrost nahm.
    »Woher willst du das denn wissen?«, fragte Madi.
    »Sei nicht so pedantisch, meine Liebe. Gibt es in deinem Job denn nicht auch Tage, an denen du weißt, dass es hoch hergehen wird?«
    »Ich bin arbeitslos«, erinnerte sie ihn, grinste dann aber. »Ja. Ich weiß, was du meinst.«
    Als sie zum Abmarsch bereit waren, kamen Roy und Hilda Bell, um sie zu verabschieden. Mr. Bell hatte für jeden von ihnen ein Geschenk. Er hatte Äste aus dem Wald geholt, sie sorgfältig begradigt und zu Wanderstöcken zurechtgeschnitzt.
    »Einen kräftigen Stock in der Hand und die Augen immer auf den Boden gerichtet, dann kann nichts passieren«, riet er ihnen.
    Madi war gerührt über diese Geste des alten Mannes. »Der Stock wird mich immer an die Kaieteurfälle erinnern«, sagte sie mit Wärme in der Stimme.
    »Einen kräftigen Stock in der Hand. Das klingt wie ein Rat fürs Leben, Mr. Bell.« Connor schüttelte die Hand des alten Mannes.
    »Schlangen, glitschige Steine, unebenes Gelände, steile Abhänge. Sie werden die Stöcke brauchen«, sagte Käpt'n Blaise, der sich den Bells angeschlossen hatte.
    John hob den leeren Kerosinkanister hoch. »Heute Abend bringen wir einen vollen mit«, versprach er.
     
    Die Sonne war noch kaum über den Hügelkuppen erschienen, als sie im Gänsemarsch lostrotteten. Am Anfang war es wie ein Spaziergang durch einen englischen Park mit einem Laubteppich aus feuchten Blättern und flechtenbewachsenen Baumstämmen, beschienen von einem weichen Licht, das durch die bis in eine dunstige Höhe von vierzig Metern aufragenden Bäume sickerte. Auf einer schmalen, uralten Steinbrücke überquerten sie ein ruhiges Flüsschen. Die dicken Steine im Flussbett schimmerten wie geschliffene Edelsteine.
    Ann erinnerte John daran, dass der Fluss beim letzten Mal ein reißender Strom gewesen war, und einer ihrer Begleiter, ein stämmiger Kerl, der unter Höhenangst litt, zitternd auf Händen und Knien hatte hinüberkriechen müssen. »Natürlich hat er sich auch nicht über den Rand der Fälle gelehnt, als wir oben waren«, fügte sie lachend hinzu.
    »Warum ist er dann überhaupt mitgegangen?«, wollte Connor wissen.
    »Du wirst schon sehen«, sagte Ann.
    Sie verfielen in Schweigen, und als der Pfad nicht mehr zu sehen war und der Anstieg steiler wurde, mussten sie genauer darauf achten, wohin sie ihre Füße setzten. Zweige knackten unter ihren Schuhen, Vögel sangen, ein Bach gurgelte und rauschte. In der stickigen, feuchtheißen Atmosphäre war der Anblick des Wassers, das hin und wieder durch die Bäume blitzte, geradezu quälend.
    Sie stiegen in Serpentinen hinauf, achteten nun noch mehr darauf, wohin sie traten, und waren dankbar für die Unterstützung durch Mr. Bells kräftige Stöcke.
    Madi blieb stehen und bewunderte die verschiedenen Wachstumsschichten vom Boden bis hinauf ins Blätterdach. Ihre Augen hatten sich erst an die Vielfalt der Vegetation im Regenwald gewöhnen müssen. Jetzt war sie mit allen Sinnen darauf eingestellt. Sie beugte sich hinunter, um die wie auf Zwergenformat geschrumpfte Wasserwelt auf einem tropfenden Stein zu ihren Füßen zu betrachten. Ein Miniaturwasserfall ergoss sich zwischen winzigen Farnen und seidigen, kaum einen Finger langen Pflänzchen hindurch, hinunter auf kleine Grashälmchen und perlgroße Kiesel. Smaragdgrünes Moos zog sich wie ein Schwamm über einen anderen Stein, und Madi drückte die Hand darauf und kühlte sich mit dem herausquellenden Wasser das erhitzte Gesicht.
    Das alles lag im Dämmerlicht, der Boden war nur von einer dünnen Humusschicht bedeckt, aber die Artenvielfalt war enorm. Der

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