Der Gesang des Wasserfalls
feuchte, schwere, modrige Geruch und das Rascheln unsichtbarer, winziger Insekten war faszinierend, und Madi wusste, dass sie, auch wenn sie den ganzen Tag hier auf den Knien hockte, der Beobachtung dieser Miniaturwelt nicht müde werden würde. Sie sah nach oben und betrachtete die Schicht auf Schicht wachsenden Pflanzen, die sich über ihr erhoben, jede Schicht eine Vielfalt verschiedener Strukturen und Oberflächen und Formen. Die Stützwurzeln der gewaltigen Bäume bildeten Mauern um eine Welt vermodernder Vegetation. Darin befand sich ein weiteres Ökosystem von Pflanzen und Tieren, eine Art Keimstätte für neue Triebe und Samen.
Mit einem Blick auf die sich von Baum zu Baum windenden Lianen stellte Madi sich vor, wie ein einziger, von Termiten befallener Baum beim Umstürzen die anderen mitreißen würde und so ein gewaltiges Loch im geschlossenen Blätterdach entstehen ließe. Die ineinander verwobenen Baumkronen, die das Dach des Regenwaldes bildeten, wurden zur Plattform für eifrige, entschlossene Ranken und Blumen, die sich an den dicken Stämmen hinaufschlängelten und im Sonnenlicht auf dem Blätterdach, viele Meter über dem Boden, zu wahren Blütenstürmen explodierten.
Madi bemerkte, dass die anderen weitergegangen waren, während sie stehen geblieben war, um diese grüne Welt zu betrachten, und empfand plötzlich so etwas wie Furcht. Doch als sie sich umdrehte, sah sie den Bootsjungen. Der junge Indio wartete auf sie, ein getreuer Schatten mit einem scheuen Lächeln und dem leeren Kerosinkanister in der Hand.
Als sie zehn Minuten später ein besonders steiles Wegstück erkletterte, das dann etwas flacher wurde, sah sie Connor auf einem Stein sitzen. »Ich habe auf dich gewartet. Alles in Ordnung mit dir?«
»Oh, absolut. Ich bin nur so fasziniert von allem. Ich kann mich nicht satt sehen an den Pflanzen und vergesse darüber ganz die Zeit.«
»Ich will dich ja nicht drängen, aber die anderen sind schon ziemlich weit voraus.«
Madi rückte ihren Rucksack zurecht, der ihr jetzt schwerer vorkam. Entschlossen schob sie sich an Connor vorbei und kletterte einen Abhang hinauf, um den Weg abzukürzen. »Niemand braucht auf mich zu warten.«
Connor grinste und folgte Madi.
»Madi, pass auf, wo du hintrittst. Da vorne sieht es etwas unsicher aus. Stochere erst mal mit dem Stock«, riet ihr Connor, der gerade gestolpert war.
Madi hatte schon eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber der Boden sah wirklich trügerisch aus. Sie stocherte mit dem Stock in den trockenen Blättern zwischen zwei Steinen, wo sie ihren Fuß hatte hinsetzen und sich abstoßen wollen. Der Stock verschwand zwischen den Blättern in einer verborgenen Felsspalte unter einer dünnen Blätterschicht, in der sie sich leicht den Knöchel hätte brechen können. Sie verlangsamte das Tempo und beschloss, besser aufzupassen.
Schließlich endete die steile Kletterpartie, und der Weg wurde eben. Connor tippte Madi auf die Schulter. »Hör mal.« Das Geschimpfe der aufgeschreckten Vögel wurde von einem tiefen Dröhnen überlagert, wie von einem näher kommenden Flugzeug.
Madi drehte sich zu Connor um, bemerkte sein gerötetes Gesicht und seinen kurzen Atem. Bei dem Gewicht des Rucksacks und dem Ziehen in den Unterschenkeln und dem Schweiß, der ihr zwischen den Brüsten herablief, war es ein Trost für sie, dass sie nicht die einzige war, die leiden musste. Aber das war schnell vergessen, als ihr die Bedeutung des stetigen Dröhnens bewusst wurde. »Die Fälle«, flüsterte sie. »Sie müssen ganz nah sein.« Mit frischer Energie schritt sie auf die anderen zu, die sich gesetzt hatten, um wieder zu Atem zu kommen.
»Wir müssen zum
Johnson's Peak
, hier entlang«, sagte John.
Der Weg führte sie durch eine offenere Landschaft. Überall war Wasser, floss zwischen den Steinen und Felsen hindurch, tropfte von den Bäumen. Sie kamen an faszinierenden Pflanzen und bis zu drei Meter hohen Bromelien mit bizarren, stacheligen Blüten vorbei. Madi sah plötzlich nach unten, japste vor Entzücken und konnte gerade noch einem Büschel wunderschöner wilder Orchideen ausweichen.
Gebückt gingen sie unter einer überhängenden Felsplatte hindurch, unter der eine kleine, trockene Höhle den Tieren Schutz bot. Dann, nach einer kurzen Kletterei, kamen sie auf einem großen, flachen Felsen wieder ins Freie. Das Dröhnen der Fälle war ohrenbetäubend. Sie hatten ihr Ziel erreicht.
Madi schloss die Augen und wandte dem Dröhnen den Rücken
Weitere Kostenlose Bücher