Der Gesang des Wasserfalls
waschen.« Sie schwieg und schaute zu den Funken auf, die in den Nachthimmel stoben. »Doch das ist eine andere Welt. Ich vermisse sie nicht im Geringsten, Lester. Zumindest im Moment nicht.«
Lester lachte leise. »Kommt mir so vor, als tät Ihnen 'ne Leidenschaft im Leben fehlen, die Sie antreibt. Was, wo dem Leben Sinn gibt. Wissen Sie, was ich meine?«
Sie blickte über das Feuer zu Lester, der jetzt zurückgelehnt dasaß, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und nun seinerseits mit den Augen dem Funkenflug hinauf in den Nachthimmel und zum Blätterdach des Dschungels folgte.
»Ich habe nie diese Art Leidenschaft besessen, von der Sie sprechen, Lester«, sagte sie leise, immer noch ein wenig verblüfft, wie exakt er ihr Leben einschätzte. »Ich kann mir das nicht vorstellen. Aber ich fühle, dass sich etwas in mir verändert. Irgendwas geschieht mit mir, seit ich hier bin. Es ist, als wäre ich zum ersten Mal wirklich ich selbst.«
»Das glaub ich auch. Wie Sie uns alle dazu überredet ham, hier mit raufzukommen … Sie sind 'ne starke Lady, Madi.«
Sie erwiderte sein Lächeln, erinnerte sich einen flüchtigen Moment lang an Geoffs ständige Kritik. »Lester, das ist das Netteste, was mir seit langem jemand gesagt hat. Ein echtes Kompliment.«
Sie sprachen von ihrer Kindheit. »Ich hatte 'nen guten Anzug, wo ich jeden Sonntag zur Kirche anzog, und er wurde gleich weggelegt, wenn wir wieder zu Hause warn, damit er gut blieb. Ich mochte die Geschichten in der Sonntagsschule. Vielleicht hat mich das zum Lesen gebracht. Und die Geschichten, die wo meine Mama mir erzählt hat … wie der vergoldete Mann. Vielleicht hat mich das zum Goldsuchen gebracht«, grinste er.
»Die Geschichte von Sir Walter Raleigh? Wenn er wirklich herkam, um die Goldstadt zu suchen … wo ist sie dann? Legenden bergen immer ein Körnchen Wahrheit in sich, sagt man.«
»So isses. Sie sagen, sie is hier, in 'nem See, wo der goldene Mann aufsteigt.«
»Hier? In der Nähe?«, fragte sie aufgeregt.
Lester lachte. »Nein, nich hier. Im Süden. Sie sagen, El Dorado is im Parimasee in der Rupununiebene. Mann, Sie sollten das Buch von Raleigh lesen, wo Sie bei Lady Annabel gefunden ham. Er schreibt über dieses Land, die Vögel, das Leben im Wald. Er war 'n guter Mann, nett zu den Indios, hat sie respektiert, und sie ham ihm geholfen. Er glaubt, dass genau wie das Blut durch unseren Körper fließt, durch all die kleinen Flüsse und Ströme, so isses hier auch … der Weg zum Herz is die Flüsse rauf. Der Blutstrom vom Körper und die Wasser in der Welt fließen alle zum Herz.«
Sie verbrachten ihre Tage ungestört bis auf gelegentliche harmlose Wildtiere, die ins Lager wanderten. Doch gelegentlich kamen indianische Jäger vorbei, und Lester hockte sich immer zu einem Gespräch mit ihnen hin, bot ihnen oft ein Gläschen Rum an. Einmal tauchten zwei für die Jagd ausgerüstete Indios bei ihnen auf, und aus der Art, wie sie mit Lester redeten, schloss Madi, dass sie mehr taten, als nur den Tag zu vertrödeln.
Wie immer blieben sie nicht lange.
Am Abend beim Feuer fragte sie ganz nebenbei, was zu diesem Besuch geführt hatte. Lester nickte nachdenklich mit dem Kopf. »Da tut sich was in den Siedlungen. Die Chefs werden ein großes Treffen veranstalten.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass es Zeit is für Veränderungen in Guyana, und unsere Indiofreunde werden dafür sorgen, dass sich was ändert.«
Madi war verwirrt. »Was denn?«
»Na ja, sie wolln was zu sagen ham bei dem, wohin sich dieses Land entwickelt. Sie wolln am Wohlstand beteiligt werden, an den Minen und so. Sie sagen, das Land tut in Wirklichkeit ihnen gehörn.«
»Das hört sich an wie die Forderungen der Aborigines bei uns in Australien. Landrechte und all das«, sagte Madi.
Im Frühlicht des nächsten Morgens hob Madi die Zeltklappe, sah, dass Lester noch in seiner Hängematte unter der Plane schlief, und ging zum Baden an den Bach. Es gab eine kleine Vertiefung, in der sie sich in das frische Wasser hocken konnte, das ihr bis zu den Achselhöhlen reichte. Sie putzte sich die Zähne, zog sich an und setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm, um sich die Haare trockenzurubbeln.
Vielleicht lag es daran, dass ihre Aufmerksamkeit abgelenkt war durch das Tuch um ihren Kopf, vielleicht daran, dass sie barfuß war oder dass sie sich einfach nur auf den falschen Platz gesetzt hatte, doch plötzlich spürte sie einen Kratzer an der Außenseite ihrer
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