Der Gesang des Wasserfalls
Wade. Sie schrie nicht auf, so weh tat es nicht, aber als sie nach unten schaute, verschlug es ihr den Atem beim Anblick ihres Angreifers. Das Tierchen war etwa hundert Millimeter lang, von tödlichem Schwarz und hatte einen mit Widerborsten bewehrten, gebogenen Schwanz. Sein Stachel war aufgerichtet, und es bebte vor Erregung auf dem Boden neben ihrem Fuß. Madi hatte noch nie einen Skorpion gesehen, aber die tödliche Gestalt war unverwechselbar. Er saß zwischen zwei Steinen bei Madis Bein, und als sie sich bewegte, huschte er unter einen von ihnen und verschwand.
Madis Herz schlug rasend schnell, und sie versuchte, die Panik zu unterdrücken, während sie zum Lager zurücklief und nach Lester rief.
Er untersuchte ihr Bein. »Das is nur 'n Kratzer, kein richtiger Stich, Sie ham Glück gehabt. Normalerweise sind die nur bei Nacht draußen.« Er holte den Erste-Hilfe-Kasten und strich eine Salbe darauf, was Madi zusammenzucken ließ. »Besser, wir gehn zum Piaimann damit.«
»Was für ein Mann?«
»Der Piaimann is der Medizinmann von den Indios. Da is einer im Dorf ganz in der Nähe. Besser, wir gehn gleich los. Nehmen Sie sich was mit, wir bleiben vielleicht einen Tag oder so.«
Madi war zu aufgewühlt, um diesem Vorschlag zu widersprechen, also stopfte sie ein paar Kleidungsstücke und ihre Toilettensachen in eine Umhängetasche und folgte Lester zum Boot. Ihr Bein schmerzte, und um den Kratzer hatte sich eine leicht gerötete Schwellung gebildet.
Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Madi saß zurückgelehnt im Boot, hatte die Augen geschlossen und versuchte, nicht an den Schmerz zu denken. Ein Hund bellte, ein Kind rief ihnen etwas zu, und Madi öffnete die Augen, als das Boot auf dem Sandstreifen vor einem kleinen Dorf auflief. Sie konnte mehrere runde, palmgedeckte Hütten mit hohen, grasbedeckten Spitzen sehen. Leute kamen gelaufen, um sie zu begrüßen. Lester half Madi aus dem Boot und rief einem Kind rasch etwas zu, damit es im Dorf Bescheid sagte.
Kurz darauf saß Madi auf einem Hocker im Schatten eines Baumes, und der Piaimann behandelte ihr Bein. Er war ein verschrumpelter, untersetzter alter Mann mit vollem, schwarzem Haar, das über den Ohren kurz geschnitten und über den Augen nach vorne zu einem Pony gekämmt war. Bekleidet war er mit ausgefransten Shorts und einem verblichenen T-Shirt. Er hatte einige Zahnlücken, lächelte viel und redete leise in seiner Stammessprache, während er sich eine Tabakspfeife anzündete. Madi sah zu Lester auf, verunsichert über diese zwanglose Art, und er flüsterte ihr zu: »Das Rauchen gehört dazu. Er sagt, wir hätten den Skorpion mitbringen sollen, damit er seine Eingeweide auf den Kratzer schmieren kann.«
»Gwen schreibt in ihrem Buch, dass es ihr gelang, Skorpione zu zähmen«, sagte Madi mit schwacher Stimme, um sich abzulenken. »Sie brachte sie dazu, überall auf ihr herumzukrabbeln, ohne sie anzugreifen.«
»Von so was hab ich schon gehört«, erwiderte Lester.
Das Verhalten des Piaimanns änderte sich jetzt, und er begann zu singen, wiegte sich vor und zurück, blies Tabakrauch um sich und auf Madi und schüttelte dazu eine kleine Rassel.
»Was macht er jetzt?«
»Is 'n
tareng
, das Blasen, sie glauben, der Atem und der Geist sind eins«, erklärte Lester. »Is 'ne Art Zauberbann, keine Bange.« Als er Madis entsetzten Gesichtsausdruck sah, lächelte er ihr beruhigend zu. »Sogar wir von der Küste kennen das. Er schickt den Geist weg, der wo Sie krank macht. Die Medizinmänner ham sehr starke Magie.«
Der Piaimann beendete sein Ritual, und zwei Frauen mit langen, schimmernden Zöpfen kamen und strichen eine Paste aus Limonensaft auf Madis Bein, was ein bisschen wehtat, weil die Hautoberfläche sehr empfindlich geworden war. Ihr wurde auch ein seltsam schmeckender Kräutertrunk verabreicht, den sie im ersten Moment aus Angst nicht schlucken wollte, aber Lester zerstreute ihre Furcht. »Das is nur Kräutermedizin, kann Ihnen nichts antun.« Innerhalb weniger Minuten fühlte sie sich schläfrig.
»Sie sagen, Sie müssen sich hier 'n bisschen ausruhn. Das Bein hochlegen«, übersetzte Lester. Sie machten es ihr bequem. Eine scheue junge Frau mit kupferfarbener Haut und Mandelaugen, die ein Baumwollkleid trug, schob ihr einen kleinen Holzschemel unter den Fuß. Madi schenkte ihr ein Lächeln und döste, gegen den Baum gelehnt, ein.
Eine Stunde später bekam sie Fisch und etwas, das wie Tapiokapudding schmeckte, zu essen.
Lester half
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