Der Gesang des Wasserfalls
hatte, wie liebevoll die Guyaner miteinander umgingen. Ohne unterwürfig zu sein, hatte Lester eine respektvolle Distanz zwischen ihnen bewahrt. Aber er lächelte voller Wärme, als Madi ihn berührte. »Lester, ich kann Ihnen nicht genug danken, dass Sie das möglich gemacht haben. Ich habe jede Minute genossen.«
»Sogar den Skorpion?«
»Das war doch nur ein Kratzer, und wissen Sie, wer mich wirklich geheilt hat?« Als er den Kopf schüttelte, zog Madi den Frosch aus ihrer Tasche und strich damit an ihrem Bein entlang. »Der hier.«
Pieter kam um die Ecke der Hütte, vor der Lester und Madi saßen.
»Ich mache einen Spaziergang, wollen Sie mitkommen Madison?«
»Ja, gern! Lester, Sie auch?«
»Nein, ich tu die Sachen zusammenpacken, wir fahren später ins Camp zurück, okay?«
»Klar, zurück an die Arbeit!«
Madi folgte Pieter in den Dschungel, der sich rings um die Ansiedlung erstreckte. Er ging schnell. Madi, die sich Matthews Hut über die langen Zöpfe gestülpt hatte, musste sich beeilen, um mit Pieter Schritt halten zu können.
»Wie reisen Sie normalerweise, wenn Sie ›im Feld‹ sind?«, fragte sie.
»Zu Fuß, per Kanu, mit dem Auto, wenn es geht. Alles, was ich brauche, trage ich bei mir. Ich zelte, jage – nicht, dass ich sonderlich gut darin wäre. Zu meinem Gepäck kommen noch die gesammelten Proben, die Botanisiertrommel und das Notizbuch hinzu. Manchmal ist es schwierig, an Pflanzen in Baumwipfeln oder an unzugänglichen Plätzen heranzukommen, aber meistens finde ich ein paar junge Indios, die mir dabei helfen.«
Pieter, dieser leutselige, umgängliche Mann, der wie ein Bär durch den Dschungel stapfte und doch Augen hatte, die noch die winzigste, verborgenste Knospe wahrnahmen, und Füße, die über kleine Schösslinge und zarte Pflänzchen hinwegstiegen, blieb stehen. Er zog ein Messer aus seinem Gürtel, machte einen schrägen Schnitt in die Rinde eines Baumes und ließ die weiße Balata in einen kleinen Becher laufen, den er an den Baumstamm hielt. »Naturgummi. Wird von den Indios hier verwendet.«
»Pieter, was denken Sie wirklich … ich meine, über die Regenwälder … nicht nur hier. Glauben Sie tatsächlich, dass dort die Antworten zu finden sind? Wie Sie sagten, so viele unserer Medikamente werden aus diesen Pflanzen gewonnen.« Madi sah hinauf zu den Baumwipfeln und dem dämmrigen Grün, das sie umgab.
Pieter ließ seinen Blick durch den Wald wandern, zu den kleinen Pflanzen, den pelzigen Blättern, den Ranken, Flechten, Moosen und Blumen, die aus Baumstämmen hervorwuchsen. »Ja, ich glaube, dass die Antworten hier zu finden sind. Aber nicht nur im Regenwald. Ich glaube, dass die Natur, und das bedeutet Insekten und Tiere wie auch Pflanzen, der Schlüssel zu unserer Gesundheit und zu unserer Zukunft ist.«
Madi begann die Umwelt durch andere Augen zu sehen, sie als Füllhorn möglicher Heilmittel zu betrachten. »Keine Wunder, dass die großen pharmazeutischen Unternehmen Zugang dazu haben wollen.«
Pieter lächelte schwach. »So viele Faktoren spielen da hinein. Wie betreiben sie ihre Forschungen, sind die Exemplare frisch, wie wird die Auswahl getroffen? Die Antworten sind hier … Aber der Prozess muss die Menschen einschließen, die ihren Platz in dieser Welt haben, sie besitzen und verstehen.«
Madi sah den Ethnobotaniker an.
»Wollen wir das nicht alle, Pieter? Unseren Platz in dieser Welt finden?« Einen Moment lang schwieg sie, dann fügte sie leise hinzu: »Ich wünschte, ich könnte irgendwie helfen. Ich habe das Gefühl, dass mein bisheriges Leben so ziellos und so … oberflächlich gewesen ist. Seit ich hierher gekommen bin, ist es, als hätten sich meine Augen geöffnet.«
»Sie sind erwachsen geworden, meinen Sie«, erwiderte er freundlich. »Erzählen Sie mir von sich, Madison.«
»Ich bin in einer liebevollen Familie aufgewachsen. Ich, hatte ein geborgenes Leben voller Spaß und habe jung geheiratet.«
»Sie haben eine schlechte Wahl getroffen, ja?«
»Wie sich herausstellte. Ich dachte, ich würde ihn lieben. Aber im Rückblick kommt es mir jetzt so vor, als hätte er mich jedes Mal, wenn ich meine Flügel ausbreiten wollte, zurückgehalten. Ich bin nie weitergekommen, habe nichts gelernt, nichts erfahren, mich nicht entwickelt, glaube ich.«
»Sie waren diejenige, die das zugelassen hat«, tadelte Pieter sie mit einem Lächeln, um den Worten die Schärfe zu nehmen.
»Da haben Sie Recht. Und es hat mich in Hinblick auf zukünftige
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