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Der Gesang des Wasserfalls

Der Gesang des Wasserfalls

Titel: Der Gesang des Wasserfalls Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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Grimasse verzerrt war, die wilden Augen waren weit aufgerissen, der Mund war aufgesperrt, und die Zunge hing heraus. Über diesem beängstigend ausdrucksstarken Gesicht, das halb das eines Menschen, halb das eines Tiers zu sein schien, erhob sich ein wirrer, zotteliger Haarschopf aus verformten Ästen und schlangenartigen Kriechpflanzen, die bis in die Baumkrone wuchsen und sich mit dem Laubwerk verbanden.
    »Das is der grüne Mann. Halb Mensch, halb Baum. Tut auf die Naturgeister aufpassen«, sagte Shanti und führte Madi weiter zum Feuer.
    Ein alter Inder versorgte das Feuer. Er war schrumpelig, schwarz und schimmernd, als wäre er getrocknet und lackiert worden. Madi erwartete fast, seine Haut knacken zu hören, wenn er sich bewegte. Aber er saß nur im Schneidersitz da, warf kleine Stöckchen ins Feuer und sah ihnen aus seinen wie Rosinen in seinem Kopf sitzenden Augen entgegen. Er trug einen alten roten Pullover und eine dunkle Hose und nickte Shanti zu, die auf Madi deutete. »Das is die Frau, wo in Schwierigkeiten steckt.«
    Er bedeutete Madi, sich zu setzen. Sie ließ sich auf der anderen Seite des Feuers nieder und sah Shanti fragend an.
    »Jetzt wird alles gut. Ich helf Ihnen mit den Fragen. Sein Englisch is nich so gut.« Sie setzte sich neben den alten Mann, so dass sie beide Madi ansahen. Der alte Mann atmete tief und langsam ein, erst durch das eine Nasenloch, dann durch das andere, so langsam und tief, dass Madi sich fragte, ob er nicht ganz zu atmen aufgehört hatte. Er schloss die Augen und schien in einer Art Trance zu versinken. Langsam begann er zu sprechen. Shanti übersetzte. Ihre Stimme veränderte sich, wurde tiefer und schleppender, und sie sprach jedes Wort mit Bedacht.
    »Haben Sie Ihr
zemi
mitgebracht?«
    »Was ist das?«, flüsterte Madi.
    »Ihr Talisman, Ihr Totem.«
    Madi zog den Holzfrosch aus der Tasche, beugte sich vor und legte ihn dem alten Mann in die Hand. Er drehte ihn um und begann leise zu singen. Dann warf er ein paar Blätter ins Feuer.
    Madi war wie hypnotisiert von dem stärker werdenden Rauch, der die auf der anderen Seite des Feuers Sitzenden beinahe verdeckte, und sie hatte das Gefühl zu träumen, denn plötzlich, als würde der Rauch Gestalt annehmen, meinte sie, geisterhafte Gestalten von Babys und kleinen Kindern zu sehen.
    »Erst kommen die Buschbabys, er sagt, sie sind die unsterblichen Kinder der Träume …«
    Ein Wedeln mit der Hand, und der Rauch verwandelte sich in undurchdringliche Schwärze.
    »Wir betreten das Land des Unbekannten …«
    Er atmete und warf ein Pulver ins Feuer, und der Rauch wallte dicht und weiß auf.
    »Und dann kommt die Dämmerung des Erwachens …«
    Und als würden sie von einem plötzlichen Energiestoß angefacht, schossen Rauch und Flammen empor, stahlblau und grün wie die Federn eines Pfaus, und Madi schrie auf, entzückt über die Schönheit und Kraft dieser blendenden Licht- und Farberscheinung. Bildete sie sich ein, seltsame Flötenmusik zu hören?
    Die Farben verblichen, und das Feuer verschluckte seine prächtige Flammenzunge und wurde wieder zu einem kleinen glühenden Mittelpunkt. Madi sah, dass der alte Mann auf einer merkwürdigen Knochenflöte spielte. Ohne eine Erklärung zu brauchen, wusste sie, dass es der Knochen eines ehemaligen Feindes war.
    Die letzten Töne verklangen, der alte Mann senkte den Kopf und schien einzuschlafen. Shanti gab Madi den Frosch zurück und sagte nur: »Sie sind beschützt.« Dann stand sie auf und bedeutete Madi, ihr zu folgen. Leise gingen sie um das Haus herum und schoben ihre Fahrräder auf den Weg unter den Bäumen zurück.
    »Können Sie es mir erklären, so dass ich es auch verstehe?«, fragte Madi.
    »Fragen Sie nich nach Erklärungen. Tun Sie das Geschenk einfach annehmen. Früher ham die Missionare gesagt, solche Männer sind von bösen Geistern besessen. Wir glauben das, was wir glauben wolln, eh?«
    Sie bestieg ihr Fahrrad, und Madi folgte in der nun fast völligen Dunkelheit schweigend dem kleinen roten Rücklicht an Shantis Rad.
    Als sie das Gästehaus erreichten, fielen die ersten schweren Regentropfen. »Shanti … ich danke Ihnen. Wie kann ich mich dem alten Mann erkenntlich zeigen … und Ihnen?« Madi schaute die Frau an, die so widersprüchlich zu sein schien, so praktisch und gleichzeitig so tief in einer Tradition verwurzelt, die Madis intellektuelles Fassungsvermögen überstieg.
    »Sie werden schon 'ne Möglichkeit finden.« Sie ging auf die Küche zu, und Madi

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