Der Gesang des Wasserfalls
Auseinandersetzung war, schleppte er sich nach oben, zog Jeans und ein Baumwollhemd an und warf das blutige T-Shirt aufs Bett.
Rasch gingen sie über das Gelände und die Auffahrt entlang zu der ungepflasterten Straße, die in die Siedlung führte. »Is nich weit«, sagte Shanti.
»Wer war das noch mal, zu dem wir gehen?«, fragte Matthew, dem plötzlich klar wurde, wie verrückt die ganze Situation war. Warum folgte er der kräftigen Gestalt der Haushälterin durch das helle Mondlicht um diese unchristliche Uhrzeit? Er war kurz vor Mitternacht zu Bett gegangen, also musste es mindestens zwei Uhr sein, dachte Matthew. Seine Armbanduhr hatte er vor dem Schlafengehen im Bad abgelegt.
Shanti bog in einen Weg neben dunklen Holzhütten ein, der teilweise von Bananenstauden und dürren Palmen bestanden war. »Wir gehn zu Pundit Silk, is ein guter indischer Obeah-Mann.«
»Was ist ein Obeah-Mann?« Dunkel erinnerte sich Matthew, irgendwelche Geschichten darüber auf der Party der Krupuks gehört zu haben, konnte sich aber nicht genau entsinnen.
»Ein Geisterdoktor. Tut das böse Blut und den schlimmen Zauber von dem Biest rausholen, das Sie gebissen hat.«
Matthew blieb abrupt stehen. »Warten Sie mal, heißt das, er ist so was wie ein Medizinmann? Kein richtiger Doktor?«
»Is ein Doktor.« Shanti griff nach seinem Arm und drängte ihn weiter. »Sie brauchen keine Bange haben. Sie müssen das machen oder Sie werden krank. Tun vielleicht sterben.«
»An was denn genau? Tollwut?«
Shanti sah ihn entnervt an und deutete auf seinen blutenden Nacken. »Sie ham 'n bösen Geist in sich, vielleicht hat jemand 'n schlimmen Zauber auf Sie gelegt. War vielleicht für jemand anders bestimmt. Aber Sie ham ihn, Junge. Der muss raus, und der Pundit, der macht das. Ganz bestimmt.«
»Gibt es denn keinen westlichen, keinen europäischen Arzt in der Siedlung?«, fragte Matthew kläglich, während er weiter hinter Shanti herstolperte.
Sie blieb vor einer einfachen Holzhütte stehen. »Tun Sie hier warten, ich sag Silk, dass wir da sind.«
Matthew sah ihr nach, als sie zum Haus ging und die Tür öffnete. Drinnen war Stimmengemurmel zu hören, dann flackerte ein schwaches Licht auf. Shanti erschien in der Tür. »Kommen Sie, Mr. Matthew. Silk is da. Er heilt Sie. Er sagt, er hat gewusst, dass heut nacht jemand kommen wird.«
»Ach ja?« Matthew gab sich geschlagen und sagte sich, er würde so lange mitmachen, bis die Sache wirklich unheimlich wurde. Er ging ins Haus.
Drinnen war in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen, doch dann nahm Shanti ihn am Arm und führte ihn in einen Raum, in dem eine Lampe brannte. Ein hochgewachsener, dünner Mann an die Sechzig stand vor ihnen. Er war sauber rasiert, doch sein Haar war sehr lang, und er trug etwas, das auf den ersten Blick wie ein Pyjama aussah, bis Matthew merkte, das es ein langes, lockeres, kragenloses Hemd über einer bauschigen Baumwollhose war. Der Mann hatte ein imposantes Auftreten, hielt sich sehr gerade und forderte Matthew mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen, so, als würde er Gäste in einem angesehenen Etablissement begrüßen. Seine Haltung und Selbstsicherheit vermittelten Vertrauen, und Matthew setzte sich auf den Stuhl, den er ihm wies. »Ich bin Silk. Pundit Silk. Sie sind also angegriffen worden. Das ist nicht gut. Aber haben Sie keine Angst, Silk wird sich um Sie kümmern.«
Er beugte sich vor und begann Matthew zu untersuchen, tastete die Drüsen an seinem Hals ab und sah sich die kleine Wunde an. Dabei ging er so professionell vor wie ein westlicher Mediziner. Er wies Shanti an, die Kerzen anzuzünden, und griff nach einer Schüssel, die halb mit Wasser gefüllt war. Mit einem sauberen Tuch reinigte er die Wunde. Matthew entspannte sich etwas.
»Ist die Wunde infiziert? Was übertragen diese Tiere? Ich hätte wohl nicht das Fenster öffnen sollen.«
Silk hob die Hand, um Matthew zum Schweigen zu bringen. »Sie hätten Sie gefunden. Jetzt stoppen wir erst mal die Blutung.«
Im zusätzlichen Licht der Kerzen, die Shanti entzündet hatte, sah Matthew eine Ansammlung kleiner Tiegel und Töpfe und getrockneter Gräser. Silk schmierte verschiedene Salben und Öle auf die Bisswunde in Matthews Nacken. Der Geruch war seltsam, und Matthew fragte mit geschlossenen Augen: »Was ist das, und was ist das?«
Mit leicht singender Stimme zählte Silk sie auf. »Weißes Lavendelöl, Drachenblut, Indigoblau, Bergamotte, Öl der sieben Planeten. Und nun halten
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