Der Gesang von Liebe und Hass
wünschte, wir könnten alle immer zusammenbleiben«, sagte Maria Christina. »Ich wünschte, wir hätten eine große Finca, mit Platz für uns alle, und wir könnten eine einzige, große Familie sein.«
»Du bist eine Träumerin«, sagte Mama Elena. »Wenn dieser Krieg vorüber ist, werden sich unsere Wege so schnell trennen, wie ein Blitz einen Baum spalten kann. Jetzt kämpfen wir noch für etwas Gemeinsames, aber wenn das erreicht ist, wenn wir die Freiheit haben, wird jeder von uns sie auf seine Weise nutzen wollen.«
»Ich werde mit Brenski gehen, wo immer er hin will.«
Mama Elena nickte. »Das dachte ich mir.«
»Ich werde mich auch von meinen Eltern nicht hindern lassen.«
»Hoffentlich nicht.«
»Mein Vater wird mich verstehen.«
Sie sah sich wieder als Kind, wie sie auf der untersten Stufe der gewendelten Leiter in der Bibliothek hockte und zuschaute, wie ihr Vater am Schreibtisch saß, eine tiefe, senkrechte Falte zwischen den Brauen, Dokumente lesend, sie unterzeichnend und mit dem brandigroten Lack, den er über einer Kerzenflamme erwärmte, versiegelnd, dann das Wappen hineindrückend, das – einzige Extravaganz an ihm – in einen Smaragd geschnitten war, den er am linken Ringfinger trug.
›Warum gehst du nicht spielen, Maria Christina?‹
›Ich sehe dir gern zu, wenn du arbeitest.‹
›Ich wünschte, das würden meine Söhne sagen.‹
›Sind Söhne mehr wert als Töchter?‹
›Sie sind wichtiger für das Fortbestehen einer Familie.‹
Sie bekam einen Schluckauf, weil sie nicht weinen wollte, denn sie war plötzlich sehr traurig.
Eine Weile lang schien ihr Vater das nicht zu bemerken, dann sagte er sehr leise: ›Komm zu mir, Maria Christina.‹
Sie gehorchte sofort.
Er zog sie auf seine Knie.
›Wir leben in einem Land, das den Frauen nur wenig Freiheit zugesteht.‹
›Meinst du damit, daß Mutter nie alleine die Straße betritt?‹
›Unter anderem.‹
›Warum ist das so?‹
›Weil es Tradition ist.‹
Sie verstand das Wort nicht, sie war damals gerade sieben oder acht Jahre alt, ganz genau erinnerte sie sich nicht mehr.
›Doch in zehn Jahren, wenn du erwachsen bist, mein Kind, wird vieles anders aussehen, liberaler, freizügiger.‹
Aber ihr Vater war gegen den Entschluß ihrer Mutter, sie ins Kloster zu bringen, nicht eingeschritten.
Obwohl da die zehn Jahre vergangen waren.
Er hatte es geschehen lassen.
Warum?
»Man merkt dir an, daß du lange stumm sein mußtest«, sagte Mama Elena.
»Wie meinst du das?« fragte Maria Christina verwundert.
»Du sprichst mit dir selbst.«
»Wir durften im Kloster nur das Nötigste reden.«
»Was meinst du damit?«
»Zum Beispiel, wenn man krank war und nicht arbeiten konnte, dann durfte man sagen: Ich bin krank. Denn nicht nur unsere Gedanken, sondern auch unsere Worte sollten Gott allein gehören.«
»Hast du im Kloster gearbeitet?«
»Natürlich. Zuerst mußte ich Böden aufwischen, dann hatte ich mich um die Abfälle der Küche zu kümmern. Ich mußte sie in Eimer füllen und zu der Kompostgrube im Garten tragen. Später durfte ich beim Kochen helfen und noch später bei der Arbeit im Garten. Das gefiel mir gut, vor allem nach Regen, wenn man richtig sehen konnte, wie alles grün wurde und plötzlich wuchs.«
»Was habt ihr in eurem Garten gezogen?«
»Gemüse vor allem, aber wir hatten auch zwei Apfelbäume und zwei Feigenbäume. Doch die Feigen durften wir nicht selbst essen. Die gab die Mutter Superior dem Dorf. Für unsere Feigen und die Hostien, die wir buken, bekamen wir aus dem Dorf Mehl und Honig. – Da fällt mir ein, ich habe noch ein Päckchen Hostien.«
»Darf ich sie sehen?« fragte Mama Elena.
»Natürlich, gern.« Maria Christina holte das kleine, in dünnes Papier gewickelte Päckchen aus dem Bettelsack ihrer ehemaligen Mitschwester.
»Es ist schon so viele Monate her, daß ich zur Messe war.« Mama Elena berührte das Päckchen.
»Ich schenke dir die Hostien.«
»Ich danke dir, Kind.« Die alte Frau schob das Päckchen vorsichtig in eine Tasche ihres weiten, schwarzen Unterrocks. »Und nun erzähl weiter, bitte.«
»In unserem Klostergarten hatten wir auch Rebstöcke für den Johanniswein und den Meßwein.« Christina lachte leise auf. »Einmal geschah etwas sehr Lustiges. Da war eine ganz junge Novizin zu uns gekommen, mit der ausdrücklichen Erlaubnis des Ordens, denn sie war erst fünfzehn Jahre alt. An dem Abend im Dezember, als wir den Johanniswein kosteten, da trank sie wohl ein
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