Der Geschichtenverkäufer
ein großer Spaß. Natürlich konnte ich vor einer Buchmesse unmöglich alle neuen Titel von vorn bis hinten durchlesen, aber in groben Zügen den Inhalt aller Bücher zu erfassen, mit denen ich in einem früheren Stadium zu tun gehabt hatte, war für mich kein Problem. Ich war beeindruckend gut orientiert. Alles andere wäre mir peinlich gewesen.
Auf dieser Buchmesse in Bologna aber spürte ich, daß sich seit der Frankfurter Messe ein halbes Jahr zuvor etwas verändert hatte. Im Laufe des Vormittags traf und begrüßte ich vielleicht hundert Bekannte - keine besondere Leistung übrigens, jedenfalls nicht für mich -, und immer mehr gelangte ich zu der Überzeugung, daß tatsächlich Gerüchte in Umlauf waren. Natürlich waren nicht alle daran beteiligt, auch das konnte ich feststellen, aber ich konnte auch nicht alle fragen. All diejenigen um mich zu versammeln, mit denen ich im Laufe der Jahre zu tun gehabt hatte, wäre ebenso unmöglich gewesen, wie alle Ameisen des Waldes in einem einzigen Ameisenhügel anzusiedeln. Aber es hatte Gerede gegeben. Was bedeutete, daß alles zu Ende war, für mich alles zu Ende war.
Eine italienische Agentin packte mich am Arm und rief überrascht: Ach, du bist dieses Jahr doch hier? Das war aus zwei Gründen eine seltsame Frage: Sie sah schließlich, daß ich da war. Und während der letzten zehn Jahre war ich immer in Bologna gewesen. Kurz darauf traf ich Cristina, die für eine der großen italienischen Verlagsgruppen arbeitete, wir kannten einander schon seit vielen Jahren. Cristina hatte die schönsten Augen der Welt und nach Maria die zweiterotischste Stimme. Jetzt faßte Cristina sich bei meinem Anblick an die Stirn - sie schien mich für ein Gespenst am hellichten Tage zu halten. Petter! rief sie. Hast du den Artikel im Corriere della Sera gelesen? Mehr konnte sie nicht sagen, ehe sie von einem Portugiesen, dessen Namen ich kaum kannte, weggezogen wurde. Er war ebenfalls eine Art Scout. Mir wurde schwindlig.
Na schön, dachte ich. Ich hätte also einen Artikel im Corriere della Sera lesen sollen. Es sah mir nicht ähnlich, so schlecht informiert zu sein, aber ich war seit vielen Wochen nicht mehr südlich der Alpen gewesen. Der plötzliche Stimmungsumschwung in meinem Kaiserreich mißfiel mir, eine Konspiration war im Gang, vielleicht stand eine Revolution bevor, und was wird aus dem Kaiser, wenn die Revolution losbricht?
Ich hatte für diesen Tag genug von der Messe, auch wenn ich noch nichts geleistet hatte. Als ich auf den Haupteingang zuging, entdeckte ich einen dänischen Schriftsteller, von dem soeben ein Jugendroman in italienischer Übersetzung erschienen war. Ich hielt diesen Roman für nicht sonderlich gut geschrieben, aber der Plot war beeindruckend, er baute auf einer Notiz auf, die der Däne auf einem Literaturfestival in Toronto von mir gekauft hatte. Ich meinte, zumindest ein freundliches Nicken verdient zu haben. Auf einer Buchmesse kann es hektisch zugehen, doch der Däne wandte sich ab, sowie er mich gesehen hatte, mein Anblick schien ihn regelrecht zu schockieren. - Aber war es nicht ganz normal, daß man einem Menschen nicht in die Augen sehen mochte, den man nicht mehr unter den Lebenden wähnte? Und mochte es manchen Menschen nicht schwerfallen, einem alten Freund nur wenige Stunden oder Tage vor dessen Tod in die Augen zu schauen? Vor allem, dachte ich, wenn man dabei womöglich selbst eine gewisse Rolle spielen sollte? Ich hatte eine viel zu gute Phantasie. Ich war schlechter Laune. Ich dichtete bereits an der Synopsis für meinen eigenen Tod.
Ich ging auf direktem Wege zum Haupteingang und nahm ein Taxi zum Hotel. Ich wohnte im vierten Stock des Baglioni. Auf meinem Zimmer riß ich den Verschluß von einer Flasche Mineralwasser aus der Minibar, ließ mich auf das breite Doppelbett fallen und schlief mit der Flasche in der Hand ein. Als ich nach langem, tiefem Schlaf hochfuhr, glaubte ich für einige schreckliche Sekunden, mein Debüt als Bettnässer gegeben zu haben.
Einige Stunden darauf saß ich mit einem Bier auf der Piazza Maggiore. Ich fand keine Ruhe. An fast allen Restauranttischen saßen Verlagsleute, und ich kannte die meisten wenigstens vom Sehen. Einige begrüßten mich freundlich, doch an diesem Abend gab es manche, die sich den Gruß verkniffen. Ich spürte ihre starren Blicke im Nacken. Ich hatte das Gefühl, daß sie mich alle verachteten.
In der richtigen Stimmung hatte ich hier manchmal eine Gespielin für die Nacht gefunden.
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