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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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tauschen, mit meinen Anziehsachen kam ich mir schon den ganzen
     Tag verkleidet vor. In Ingas Seidenkleid ging ich zurück in ihr Zimmer und setzte
     mich auf den Korbstuhl. Die Nachmittagssonne, die durch dieSpitzen
     der Bäume ins Zimmer flimmerte, tauchte es in lindgrünes Licht. Die Schlieren im
     Linoleum schienen sich wie Wasser zu bewegen, Wind strich durchs Fenster, und es
     war, als säße ich in der ruhigen Strömung eines grünen Flusses.

[Menü]
    III. Kapitel
    Tante Inga trug Bernstein. Lange Ketten mit geschliffenen
     Perlen, in denen man kleine Insekten sehen konnte. Wir waren davon überzeugt, dass
     sie die Flügel schütteln und davonfliegen würden, sobald die Harzhülle aufbrach.
     Ingas Arm steckte in einem dicken gelbmilchigen Reif. Den Meeresschmuck trug sie
     aber nicht wegen ihres Tiefseezimmers und dieses Meerjungfrauenkleides, sondern, wie
     sie sagte, aus gesundheitlichen Gründen. Schon als Baby gab sie jedem, der sie
     streichelte, einen Stromschlag, kaum merklich, doch der Funken war da, und gerade
     nachts, wenn Bertha ihr die Brust gab, bekam sie von ihrem Kind einen kurzen Schlag,
     fast wie ein Biss, bevor es anfing zu saugen. Sie sprach mit niemandem darüber, auch
     nicht mit Christa, meiner Mutter, die damals zwei war und zusammenzuckte, wenn sie
     ihre Schwester berührte.
    Je älter Inga wurde, desto stärker wurde die elektrische
     Ladung. Längst hatten es auch andere bemerkt, aber jedes Kind hatte schließlich
     etwas, womit es sich von den anderen unterschied und wofür man es entweder hänseln
     oder bewundern konnte, und bei Inga waren es die Stromstöße. Hinnerk, mein
     Großvater, wurde wütend, wenn durch Ingas Nähe der Empfang des Radios gestört wurde.
     Es rauschte dann, und bisweilen hörte Inga durch das Knistern und Rauschen Stimmen,
     die leise miteinander sprachen oder ihren Namen riefen. Wenn Hinnerk Radio hörte,
     durfte sie nicht ins Wohnzimmer. Allerdings hörte er immer Radio, wenn er im
     Wohnzimmer war.Wenn er nicht im Wohnzimmer war, dann saß er im
     Arbeitszimmer, wo ihn ohnehin niemand stören durfte. So sahen sich Hinnerk und Inga
     in den kälteren Jahreszeiten nur bei den Mahlzeiten. Im Sommer waren alle draußen,
     Hinnerk saß abends auf der hinteren Terrasse oder fuhr mit dem Fahrrad durch die
     Weiden. Inga mied das Radfahren, zu viel Metall, zu viel Reibung. Das war eher was
     für Christa, und so fuhren Hinnerk und Christa an Sommerabenden und an Sonntagen zur
     Schleuse, zum Moorsee, zu Kusinen und Vettern in den Nachbardörfern. Inga blieb in
     der Nähe des Hauses, sie verließ das Grundstück kaum und kannte es deshalb am besten
     von allen.
    Frau Koop, Berthas Nachbarin, erzählte uns früher, dass
     Inga bei einem gewaltigen Gewitter geboren worden sei, die Blitze seien nur so ums
     Haus gejagt, und just in dem Moment, als ein Blitz das Haus von oben bis unten
     durchzuckt habe, sei Inga auf die Welt gekommen, das Zimmer sei taghell erleuchtet
     gewesen, Inga habe keinen Ton von sich gegeben, und erst beim einsetzenden Donner
     habe sich ein Schrei aus ihrem kleinen roten Mund gelöst, und von der Stunde an sei
     sie elektrisch gewesen. »De Lüttje«, so erklärte Frau Koop jedem, der es hören
     wollte, sei eben »noch nicht geerdet gewesen«, sondern habe noch halb in der
     »anderen Welt geschwebt, das arme Wurm«. Zugegeben, »das arme Wurm« hatte sich
     Rosmarie nachträglich ausgedacht. Aber Frau Koop hätte es sagen können, sie wollte
     es bestimmt. Wir erzählten uns diese Geschichte jedenfalls niemals, ohne noch »das
     arme Wurm« dranzuhängen, wir fanden, es höre sich so viel besser an.
    Christa, meine Mutter, hatte den hohen Wuchs und die
     lange, etwas spitze Nase der Deelwaters geerbt. Von den Lünschens hatte sie das
     dicke braune Haar, doch ihre Lippen waren scharf gezeichnet, ihre Brauen stark unddie grauen Augen schmal. Zu herb, um in den fünfziger Jahren als
     Schönheit durchgehen zu können. Ich ähnelte meiner Mutter, nur war alles an mir,
     mein Kopf, meine Hände, mein Körper, selbst meine Knie, runder als bei Christa. Zu
     rund, um in den neunziger Jahren als Schönheit durchgehen zu können. Das hatten wir
     also auch gemeinsam. Harriet, die Jüngste, war nicht gerade hübsch zu nennen, sah
     aber reizend aus – immer etwas zerzaust, mit roten Wangen, kastanienbraunem Haar und
     gesunden Zähnen, die ein wenig schief standen. Ihr schlaksiger Gang und die großen
     Hände erinnerten an einen sehr

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