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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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verzweifelt. Hat Frau Mahlstedt mir einen Schlüssel gegeben? Wo ist er denn? Will sie ihn mir geben? Wollte ich ihr einen geben? Welchen denn? Wozu?
    Die Zettel wurden mehr und mehr. Wenn wir in Bootshaven waren, flogen sie überall herum. Weil es immer irgendwo zog, wehten sie langsam durch die Küche wie im Herbst die großen Blätter der Linden draußen auf dem Hof. Die Nachrichten auf den Zetteln wurden immer unleserlicher und unverständlicher. Waren auf denersten Zetteln noch Dinge wie die schrittweise Bedienung der neuen Waschmaschine, so wurden die Zettel im Laufe der Zeit mehr und dafür kürzer. »Rechts vor links« stand auf einem, das konnte man noch verstehen. Doch manchmal schrieb meine Großmutter Zettel, die sie selbst nicht mehr lesen konnte, und manchmal versuchte sie Zettel zu lesen, auf denen aber nichts Lesbares mehr stand. Allmählich wurden die Botschaften immer sonderbarer: »Badeanzug im Ford«, aber zu der Zeit hatten sie gar keinen Ford mehr, und dann immer wieder »Bertha Lünschen, Geestestraße 10, Bootshaven«. Irgendwann nur noch »Bertha Deelwater«, doch da waren es schon weniger Zettel geworden. Bertha. Bertha. Als müsste sie sich vergewissern, dass es sie noch gab. Der Name sah nicht mehr so aus wie eine Unterschrift, sondern wie etwas mühsam Kopiertes. Der kurze Schriftzug war voller Stellen, an denen der Stift abgesetzt, innegehalten und wieder neu angesetzt hatte, lauter kleine Narben. Zeit verstrich, und der Blätterregen versiegte ganz. Wenn Bertha noch ab und zu auf einen alten Zettel stieß, stierte sie ihn blind an, knüllte ihn zusammen und steckte ihn sich in die Schürze, den Ärmel oder in ihren Schuh.

    Mein Großvater schimpfte über die Unordnung im Haus. Harriet tat ihr Bestes, aber sie musste ihre Übersetzungen fertig machen, und Rosmarie trug auch nicht dazu bei, dass alles gepflegt und ordentlich aussah. Hinnerk fing an, sein Arbeitszimmer abzuschließen, damit ihm seine Frau nichts durcheinanderbrachte. Bertha rüttelte ratlos an der Tür seines Zimmers und sagte, sie müsse doch dort hinein. Das war ein Anblick, den wir alle nicht gut ertragen konnten. Es war schließlich ihr Haus.
    Eigentlich kannte ich Bootshaven nur im Sommer,wenn ich hier in den Ferien war. Mal kam ich mit meinen Eltern, aber meistens nur mit Christa, ein oder zwei Mal auch allein. Zu Hinnerks Beerdigung waren wir im November angereist. Da hatte es aber nur geregnet. Wirklich gesehen habe ich außer dem Friedhof nichts, nicht einmal den Garten vom Haus.
    Wie war der Garten im Winter?, fragte ich meine Mutter, die Schlittschuhläuferin, deren Name klang wie das Kratzen von Kufen auf Eis.
    Der Garten im Winter sei natürlich schön, sagte sie dann und zuckte mit den Schultern. Als sie merkte, dass das nicht reichte, fügte sie hinzu, dass einmal alles übergefroren sei. Erst habe es den ganzen Tag geregnet, aber am Abend sei plötzlich die große Kälte gekommen, und alles sei glasiert worden. Jedes Blatt, jeder Halm habe eine durchsichtige Eisschicht gehabt, und wenn der Wind durch das Kiefernwäldchen geblasen habe, hätten die einzelnen Nadeln aneinandergeklirrt. Das sei wie Sternenmusik gewesen. Keiner habe hinausgedurft. Jeder Stein auf dem Hof sei wie aus Glas gewesen. Sie hätten das Fenster von Ingas Schlafzimmer geöffnet und hinuntergesehen. Am nächsten Tag sei es dann wieder wärmer geworden, und der Regen habe alles fortgespült.
    Wie war der Garten von Berthas Haus im Winter?, fragte ich meinen Vater, der ihn schließlich auch mal außerhalb der Sommerferien gesehen haben musste. Er nickte lebhaft und sagte:
    - Na, so ähnlich wie im Sommer, bloß braun und platt.
    Er war eben ein Naturwissenschaftler, mit Natur konnte er wahrscheinlich nicht so viel anfangen.
    Ich fragte Rosmarie und Mira, als ich im Sommer dort war. Wir saßen auf der Treppe und versteckten kleine Briefe in den aufgesprungenen Platten. Der Garten imWinter? Rosmarie dachte nicht lange nach. Langweilig, sagte sie. Todlangweilig, sagte Mira und lachte.
    Als Rosemarie, Mira und ich wieder einmal Verkleiden spielten, kam mein Großvater vorbei, um uns Bonbons aus der MacIntosh’s-Dose zu geben. Er mochte uns. Er mochte mich lieber als Rosmarie, weil ich Christas Kind war, weil ich jünger war, weil ich nicht mit ihm in einem Haus wohnte und weil er mich nicht so oft zu Gesicht bekam. Aber er liebte es, mit den beiden größeren Mädchen zu schäkern, und sie schäkerten auch immer kräftig zurück. Das machte

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