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Der Geschmack von Apfelkernen

Der Geschmack von Apfelkernen

Titel: Der Geschmack von Apfelkernen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagena
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Großmutter hat es ihr erzählt?
    Max zuckte die Schultern und öffnete den ersten Eimer. Mit einem Stock, den er sich am Kiefernwäldchen gesucht hatte, rührte er in der dicken Farbmilch.
    - Komm, wir fangen an zu malen. Du von da und ich von hier.
    Wir tauchten die Malerrollen ein und fuhren über den dunkelgrauen Putz. Das Weiß leuchtete grell. Langsam drückte ich die Rolle an die Wand. Das Dach begann auf Höhe meiner Stirn. Dünne Rinnsale weißer Farbe flossen die Wand hinab. Streichen war auch eine Spielart des Vergessens. Ich wollte die rote Schrift nicht zu hoch hängen. Sie war schließlich nicht von Gott, sondern von einem gelangweilten Teenager an die Wand gesprüht. Ein Streich eben.
    Das Streichen ging schnell, die Wände des Hühnerhauses waren wirklich nicht besonders groß. Als wir dort gespielt hatten, Rosmarie, Mira und ich, war das Haus noch nicht so klein gewesen.

    Die Hände meiner Großmutter strichen über alle glatten Flächen, Tische, Schränke, Kommoden, Stühle, Fernseher, Stereoanlagen, überall streifte sie entlang, immer auf der Suche nach Krümeln, Staub, Sand, Essensresten. Das fegte sie mit der Hand zu einem Häufchen zusammen und schob es in die zur Schale gekrümmte linke Hand. Das Zusammengefegte trug sie dann so lange herum, bis es ihr jemand abnahm und in einen Mülleimer, in die Toilette oder aus dem Fenster warf. Es war ein Symptom der Krankheit, das machten sie alle hier, hatte die Schwester im Heim zu meiner Mutter gesagt. Ein gespenstisches Haus. Einerseits war es so praktisch und funktionelleingerichtet, doch dann war es bevölkert mit Körpern, die auf unterschiedliche Weise und in verschieden starker Ausprägung von ihren Geistern verlassen worden waren. Den guten wie den bösen. Sie strichen alle mit ihren Händen über die glatten Kunststoffmöbel mit den runden Ecken, als suchten sie etwas zum Festhalten. Doch der Eindruck täuschte. Sie tasteten nicht nach einem Halt. Wenn Bertha einen harten Schmutzfleck erspähte, und sei es auf ihrer Schuhsohle, dann kratzte sie mit einer Heftigkeit und Beharrlichkeit daran herum, bis er unter ihren Fingernägeln nachgab, sich in Krümel oder kleine Röllchen auflöste und schließlich ganz verschwand. Tabula rasa: Nirgends gab es reinere Tische als im Heim des Großen Vergessens. Hier vergaß man glatt.
    Wenn Christa von den Besuchen zurückkam, weinte sie viel. Wenn Leute sagten, dass es ja auch ganz tröstlich wäre, wenn die Eltern wieder zu Kindern würden, dann wurde sie sehr ärgerlich. Ihre Schultern strafften sich, ihre Stimme wurde kalt, und sie sagte leise, das sei das Dümmste, was sie je gehört habe. Verwirrte alte Menschen seien kein bisschen wie Kinder, sondern einzig wie demente Greise. Da gebe es keine Gemeinsamkeiten. Und sie mit Kindern zu vergleichen, das wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre. Das würde nur denen einfallen, die entweder nie ein Kind oder nie einen dementen Greis zu Hause gehabt hätten.
    Die Leute, die Christa doch nur trösten wollten, schwiegen betroffen und oft auch beleidigt. Der Ausdruck mit den dementen Greisen war hart und geschmacklos. Christa wollte provozieren, und das wiederum erschreckte meinen Vater und mich. Wir kannten sie nur leise und höflich, bestimmt zwar, aber niemals angriffslustig.
    Als ich in der Schule »Macbeth« durchnahm, musste ich an Bootshaven denken. Es ging die ganze Zeit ums Erinnern und Nicht-erinnern-Wollen, um das Wegmachen von Flecken, die gar nicht da waren, und dann gab es noch diese drei Hexenschwestern.

    Streich, Streichen, Berthas Hände über allem, was flach war: das Vergewissern des Körpers, dass es ihn noch gab, dass er noch einen Widerstand bot. Sein Überprüfen, ob es noch einen Unterschied gab zwischen ihm und den unbelebten Dingen im Raum. Das alles kam erst später. Zuvor waren die inzwischen leergefegten Tische und Sideboards und Stühle und Kommoden nämlich voll. Voll von Zetteln. Kleine quadratische Zettel, sauber abgetrennt von Papierblockwürfeln, abgeschnittene Zettel vom Rand einer Tageszeitung, große DIN-A4-Seiten aus einem Heft gerissen, Rückseiten von Kassenzetteln. Einkaufszettel, Merkzettel, Listen mit Geburtstagen, Listen mit Adressen, Zettel mit Wegbeschreibungen, Zettel mit großgeschriebenen Befehlen: DIENSTAGS EIER HOLEN! stand dort. Oder SCHLÜSSEL FRAU MAHLSTEDT. Dann begann Bertha Harriet zu fragen, was sie sich eigentlich merken wollte.
    - Was bedeutet »Schlüssel Frau Mahlstedt«? fragte sie ganz

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