Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
Pfeile aus Schreck und Erregung flitzen über meinen Monitor. Für einen Moment fehlen mir die Worte, dann bringe ich stotternd heraus: »Oma Anne ist … Sie ist gar nicht … Sie ist nicht in der Psychiatrie?«
»Nicht mehr.« Mama meidet meinen Blick und scheint bereits zu bereuen, dass ihr diese Info herausgerutscht ist.
Ich starre meine Mutter an, warte, ob noch mehr kommt. Vergebens. Mama hat zugemacht wie eine Auster. Doch die Erkenntnis, dass meine irre Oma gar nicht in einer Gummizelle sitzt, sondern irgendwo ein freies Leben als Künstlerin führt, hat mich so durcheinandergebracht, dass ich es zum ersten Mal in meinem Leben wage, nachzubohren.
»Warum redest du eigentlich so ungern über Oma Anne? Was ist damals passiert, Mama?«
»Das weißt du«, sagt sie steif. »Anne hat Dinge getan, die man nicht verzeihen kann.«
»Aber was, Mama? Was hat sie getan?«
»Lass es gut sein. Bitte.«
»Warum erzählst du es mir nicht?« Ich werde wütend. »Offensichtlich sitze ich da ja einer ganz schönen Lüge auf. Immer habe ich gedacht, Oma ist in der Psychiatrie, ihr habt sie mir als schlechtes Vorbild hingestellt. Und jetzt kommt raus, dass sie gar nicht verrückt ist?«
»Sie war es. Das ist schlimm genug.«
Mama wendet sich ab, um in die Küche zu gehen. Wie üblich will sie sich der Auseinandersetzung entziehen, und das bringt mich endgültig auf die Palme. Warum ist meine Mutter so feige? Was ist damals geschehen, dass es um jeden Preis unter dieser erstickenden Decke aus Schweigen begraben bleiben muss?
Jetzt bin ich es, die zu meiner Mutter stürzt und sie am Ärmel festhält. »Bleib hier!«, rufe ich aufgebracht. »Siehst du nicht, wie ungerecht das ist? Mann, ich soll euch jeden kleinsten Mist berichten, soll mich ohne Widerrede von dir und Papa über alles und jedes ausfragen lassen, aber euch darf ich nichts fragen! Alles verheimlicht ihr mir! Nie darf ich über meine eigene Großmutter –«
»Es reicht, Sophie«, unterbricht Mama mich, und ihre Stimme klingt ungewohnt scharf. Sie schüttelt meine Hand ab. »Was Anne getan hat, ist nicht für Kinderohren bestimmt. Basta.«
»Aber ich bin kein Kind mehr!«, schreie ich. »Ich bin sechzehn! Ich bin in zwei Jahren erwachsen, darf wählen, den Führerschein machen und mich ins Koma saufen, wenn ich Lust dazu habe! Also warum, verdammt noch mal, behandelst du mich wie ein Baby?«
Mama ringt sichtlich darum, nicht zurückzuschreien. Sie wird selten laut, jetzt scheint sie allerdings kurz davor zu stehen. Sie ballt die Fäuste, entspannt sie wieder.
Dann hat sie sich gefasst. »So, wie du dich gerade verhältst, beweist du nur, dass du noch lange nicht erwachsen bist. Ins Koma saufen, du liebe Güte! Ist das deine Vorstellung von Reife?«
»Darum geht es doch gar nicht«, sage ich, und mein Zorn wird zu graubrauner Verzweiflung.
»Ach. Und worum geht es dann?«
Um meine Oma, die mir ihren Wahnsinn vererbt hat, will ich rufen. Um mich selbst, weil ich endlich wissen will, was mich erwartet! Es geht darum, dass du begreifst, dass ich nicht mehr dein kleines Mädchen bin. Dass ich keine Märchen mehr hören will. Dass ich alt genug bin, um die Wahrheit zu verkraften.
Aber nichts davon kommt über meine Lippen.
Denn schmutzig-beige meldet sich der Zweifel zu Wort. Vielleicht bin ich alt genug für die Wahrheit. Doch bin ich auch stark genug? Will ich wirklich wissen, was mir bevorsteht, auch wenn dieses Wissen meine schlimmsten Ängste bestätigen würde? Herrgott, ich traue mich ja nicht mal, meine Farb-Halluzinationen zu googeln! Sich im Stillen vor einer Geisteskrankheit zu fürchten ist unangenehm. Die Diagnose vom Internet ausgespuckt zu bekommen oder von meiner Mutter zu hören und nie mehr verdrängen zu können wäre absolut unerträglich.
Nein, dazu bin ich nicht bereit.
Mama und ich schauen uns an, lauernd, unglücklich, und ich frage mich, wie dieser Morgen mir so entgleiten konnte. Statt freudestrahlend auf dem Weg zu Mattis zu sein, stehe ich in unserem Flur, zermartere mir das Hirn und führe Grundsatzdiskussionen mit meiner Mutter – wenn man mein Geschrei und ihre verbissene Abwehr so nennen kann.
Plötzlich will ich nur noch weg.
»Ich hab keinen Bock auf den ganzen Scheiß«, sage ich müde zu Mama. »Lass mich einfach an den Weiher gehen.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehe ich mich um und verlasse das Haus. Mama hält mich nicht zurück, aber ich fühle ihren stummen Vorwurf im Rücken: Ich habe ihr nichts von Mattis
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