Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
erzählt, wie sie es sich gewünscht hat, stattdessen habe ich einen Streit vom Zaun gebrochen, indem ich an das Tabu gerührt und Mama mit Oma Anne bedrängt habe.
Die gar nicht in der Psychiatrie einsitzt, wie ich immer geglaubt habe.
Sondern als Künstlerin arbeitet und in Freiheit lebt.
Und die damit, schießt es mir durch den Kopf, auf einen Schlag in meine Reichweite gerückt ist.
Zwölf
Aber drei Stunden später habe ich Oma Anne vollständig vergessen. Ich liege auf der weichen, stillen Wiese, und jeder Gedanke an meine Familie, meine Probleme und überhaupt an alles erscheint mir unendlich weit weg – alles außer Mattis, der neben mir auf der Seite liegt und mir aus dreißig Zentimetern Entfernung in die Augen schaut. Über uns zwitschern die Vögel, ein leiser Wind streicht über meine sonnenwarme Haut, und ich bin glücklich.
Wer hätte das gedacht, nachdem dieser Tag so schlecht angefangen hat, denke ich und muss lächeln.
»Du hast Grübchen in den Wangen, wenn du lächelst. Wusstest du das?«, fragt Mattis leise. Seine Stimme klingt wie rauer Samt.
»Hat mir noch nie jemand gesagt«, flüstere ich zurück und lächele gleich noch ein wenig mehr.
Mattis streckt den Arm aus und streicht mit dem Zeigefinger über meine Wange.
Ich rühre mich nicht, wage kaum zu atmen. Bin wie hypnotisiert von dem Gefühl seines Fingers auf meiner Haut, von seinem Blick, dem Versprechen darin. Ob es jetzt passiert, wirklich und wahrhaftig? Ob mein Traum wahr wird?
Ob Mattis mich küsst?
Seine große, braune Hand legt sich um meinen Nacken. Er zieht mich näher zu sich heran, und mein Herz klopft zum Zerspringen … als er mich wieder loslässt und sich abrupt auf den Rücken legt.
Mattis verschränkt die Arme hinterm Kopf und starrt in den Himmel, und ich frage mich verwirrt und enttäuscht, was ich falsch gemacht habe.
»Ich muss nach München fahren. Morgen«, sagt Mattis, dreht den Kopf und schaut mir wieder in die Augen. Doch diesmal ist sein Blick nicht zärtlich, sondern entschlossen, beinah grimmig.
Ich schlucke. »Okay. Hast du was Bestimmtes vor?«
»Ja.«
Ich will die nächste Frage nicht aussprechen, aber sie ist so logisch und folgerichtig, dass ich es trotzdem tue. »Triffst du jemanden? Ein Mädchen?«
Er zögert. »Ja.«
Es stimmt also doch, denke ich benommen. Es gibt sie, die Super-Freundin in München. Deshalb küsst er mich nicht, hatte es nie ernsthaft vor.
Ich drehe mich ebenfalls auf den Rücken und schaue blind in die Pappelzweige über mir. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, jetzt ist es amtlich: Ich war die ganzen letzten Tage nichts als ein Zeitvertreib für Mattis. Ein Kumpel. Ein Landei, mit dem er sich nur mangels besserer Alternative getroffen hat. Die nette Sophie, die zwar Grübchen hat, aber niemals ein H&M-Model mit Türsteher-Kontakten sein wird.
Gedemütigt zwinkere ich die Tränen fort, die mit Macht nach draußen drängen.
Da sagt Mattis: »Am Samstag können wir uns wieder sehen, wenn du Lust hast.«
Wenn du am Samstag überhaupt noch weißt, wie ich heiße, denke ich, und in das schleimige Grün meiner Eifersucht mischt sich bitteres Oliv. Will ich Mattis’ Kumpel sein? Ein Notnagel für die Tage, an denen seine Freundin keine Zeit für ihn hat? Oh nein! Ich liebe ihn, und ich will, dass er mich auch liebt. Weniger, erkenne ich mit rasiermesserscharfer Klarheit, geht nicht mehr.
»Na dann, viel Spaß in München«, sage ich und rappele mich auf. Ich packe mein Zeug zusammen, ziehe mir das Kleid über.
Entgeistert schaut Mattis zu mir hoch. »Warum gehst du denn jetzt?«
Tja, warum wohl?
»Ich hab noch was vor«, sage ich und höre selbst, wie armselig meine Lüge klingt. »Fotografieren«, setze ich rasch hinzu.
»Aber …«, setzt er an, doch ich habe mich schon in Bewegung gesetzt und verlasse fluchtartig die Wiese.
»Bis Samstag dann!«, ruft Mattis mir nach.
Oder auch nicht, denke ich und verkneife es mir, mich ein letztes Mal nach ihm umzudrehen. Denn Mattis soll nicht sehen, dass ich den Kampf gegen die Tränen verloren habe. Stetig und salzig laufen sie mir über die Wangen, silbern tropfen sie über meinen inneren Monitor. Überdecken das Gold, verdrängen das Blau.
Ich hasse Silber.
Den nächsten Tag vertreibe ich mir damit, üble Laune zu haben und sie ungehemmt auszuleben. Mit Mama bin ich zerstritten, Mattis nimmt Bus, Regionalbahn und was-weiß-ich-noch-alles auf sich, um nach München zu seinem blöden Topmodel zu kommen, und Lena
Weitere Kostenlose Bücher