Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
aufreißen!
Ich greife nach dem obersten, drehe ihn um, lese Namen und Adresse der Absenderin. München! Die ganze Zeit über, all die Jahre, hat Anne Meindl, meine Oma, in München gelebt – so nah! So nah und doch so unerreichbar.
Aber jetzt ist Oma Anne nicht mehr unerreichbar.
Denn jetzt habe ich ihre Adresse.
Ich fange an, die Kiste zu durchwühlen, während mein Verstand fieberhaft arbeitet. Kann ich Anne einfach so besuchen, obwohl sie mich gar nicht kennt? Wird sie mir die Tür vor der Nase zuschlagen, wird sie mich auf meiner Suche nach der Wahrheit ebenso abblitzen lassen wie meine Eltern? Andererseits: Hätte sie meiner Mutter all diese Briefe geschrieben, wenn sie kein Interesse an einer Versöhnung hätte? Soll ich sie anrufen, sie vorwarnen, oder wird sie sich eher mit meiner Existenz und meinen bohrenden Fragen abfinden, wenn ich überraschend und leibhaftig vor ihr stehe?
Meine Finger erfassen eine bunte Karte, ich tauche aus dem Gedankensturm in meinem Kopf auf, lese sie. Die Einladung zu einer Vernissage, Annes Vernissage. Daher wusste meine Mutter also, dass Oma Anne jetzt als Künstlerin arbeitet. Ich drehe die Karte um, betrachte das Bild, das die Rückseite der Karte ziert: reines Chaos.
Auf den ersten Blick.
Seltsam vertraute, fließende, stachelige, spitze Farbverläufe auf den zweiten Blick.
Und da weiß ich, dass meine Mutter recht hatte.
Denn auch wenn die Farben auf der Karte nicht mit meinen übereinstimmen, weil das Silber bei Oma Anne fließt statt zu tropfen, weil das Gelb stachelig ist wie mein Pink und das Braun spitz wie mein Dunkelgrün: Ich hege keinen Zweifel mehr daran, dass sie ist wie ich. Anne und ich teilen etwas.
Wenn je ein Mensch auf der Welt mich verstehen, meine Innenwelt begreifen kann, dann sie.
Ohne zu zögern, lege ich die Karte zurück, schreibe die Adresse von einem der Briefumschläge ab und packe zusammen, was ich für einen Kurztrip nach München brauche.
Als ich den ersten Bus hinter mir habe und den zweiten auch und endlich in der Regionalbahn sitze, die an jeder Milchkanne anhält, meldet sich mein Kopfweh zurück. Ich lehne die Stirn an die kühle Scheibe und schaue hinaus. Felder, Waldstücke, saftige Wiesen ziehen an mir vorbei, alles so idyllisch, so trügerisch beruhigend. Was erwartet mich, wenn ich in weniger als einer Stunde bei dieser Fremden in die gute Stube platze? Was wird sie mir enthüllen? Sofern sie mich nicht hochkant rauswirft, sobald ich die erste Frage gestellt habe.
Und sofern sie überhaupt zu Hause ist! Mist, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Vielleicht ist sie verreist und ich fahre ganz umsonst … Tja, zu spät, denke ich müde. Jetzt bin ich auf dem Weg, jetzt ziehe ich es durch. Egal, wohin es mich führt.
Ich schließe die Augen, versuche ein bisschen zu schlafen, und als ich wegdämmere, steigt Mattis’ Bild in mir auf. Mattis … Mein Mattis, der mich anlächelt, der mich in seine Arme zieht und mich zärtlich küsst. Mattis, der mir sagt, wie sehr er mich liebt. Mattis, der das Gold in mir zum Funkeln bringt. Mattis, der mein Blau bis in die Unendlichkeit hinein vertieft. Mattis, den ich liebe, so sehr liebe, liebe, liebe … Als die Bahn im nächsten Kaff hält, wache ich mit Tränen in den Augen auf.
Ich beiße die Zähne zusammen, zwinkere die Tränen fort. Schluss damit!
Schwach zu sein und in Selbstmitleid zu baden gilt ab heute nicht mehr.
Achtundzwanzig
Jetzt ist es nicht mehr zu leugnen: Ich bin ein Landei.
Ich habe es zwar geschafft, mir am Münchener Hauptbahnhof ein Taxi zu nehmen. Aber schon auf der Fahrt in den Stadtteil Laim, wo Anne wohnt, habe ich mich gefühlt, als sei ich Lichtjahre von zu Hause entfernt. Alles ist so anders hier: die großen Straßen, die rücksichtslosen Autofahrer, die Radler, die sich mit Todesverachtung durch den Verkehr drängeln. Und dann erst Laim! An den Seiten abgefuckte Hochhäuser, Dönerbuden, Tankstellen. Ganze Rudel von Jungs, denen ich nachts lieber nicht allein begegnen würde. Mütter mit Kinderwagen und Gesichtern voller Piercings.
Hier wohnt meine Großmutter?!
Das Taxi hält. Ich bin einen Großteil meines Geldes los. Stehe verschüchtert auf der Straße vor dem hässlichen Mietshaus, das die Nummer zweiundsechzig trägt. Kein Zweifel, die Adresse stimmt. Schade eigentlich.
Ich mache mich auf das Schlimmste gefasst, als ich zur Tür trete und die vielen Klingelschilder nach Omas Namen absuche. Bingo, schon gefunden. Ich atme tief durch und
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