Der Geschmack von Sommerregen (German Edition)
alles schön sei? Ob Mama sich gut erhole? Toll, dann bis bald, ja, ich passe auf mich auf … und tschüss.
Ich schalte das Smartphone aus. Lena und Mattis werden sich nicht mehr melden, und auf hämische Nachrichten wie die von Walli bin ich im Moment nicht scharf. Ich brauche meine Kraft für Wichtigeres. Für eine Suche, die ich viel zu lange vor mir her geschoben habe. Für die Suche nach den Dämonen meiner Familie.
Entschlossen stehe ich vom Bett auf, setze mich an meinen Schreibtisch und fahre den Mac hoch.
Siebenundzwanzig
Zwei Stunden später schlage ich frustriert mit der Faust auf den Schreibtisch. Verdammt, wofür ist das Internet gut, wenn es mir unfassbar viele Ergebnisse liefert – aber kein einziges, mit dem ich etwas anfangen kann?
Ich habe es damit versucht, »Anne Meindl« zu googeln: dreizehnmillionensechshunderttausend Ergebnisse. »Anne Meindl Künstlerin«: einunddreißigtausend Ergebnisse. Immer noch viel zu viel. Und immer noch kein einziger verwertbarer Hinweis dabei.
Ich gehe runter in die Küche. Mache mir einen Toast und den Kamillentee, nach dem mein Magen nun vehement verlangt. Kauend lehne ich mich gegen die Arbeitsfläche, trinke im Stehen den heißen Tee, versuche, mein Gehirn zur ultimativen Lösung zu zwingen: Was muss ich eingeben, um meine Oma unter den Tausenden, Millionen von Anne Meindls zu finden? Und was um Himmels willen mache ich, wenn es sie im Netz gar nicht gibt? Sie ist eine alte Frau, vielleicht weiß sie nicht einmal, was das Internet ist. Ach, verflucht!
Ich tigere im Haus hin und her, überlege mit gefurchter Stirn, was mir noch bleibt, wenn das Internet ausscheidet. Wo kann ich etwas über meine Oma rausfinden? Soll ich tatsächlich in den sauren Apfel beißen und noch mal meine Eltern anrufen? Muss ich meiner Mutter ihre psychische Auszeit vermiesen, weil ich allein einfach nicht weiterkomme? Geht es nicht auch anders? Es muss doch anders gehen, es muss, es muss …
Die Kiste!
Wie Schuppen fällt es mir von den Augen.
Die flache Kiste, über die meine Mutter sich mit roten Augen gebeugt hat, als ich mit ihr sprechen wollte. Die Kiste, die ich nie zuvor gesehen hatte, weil Mama sie sorgfältig versteckt hat, irgendwo im Arbeitszimmer. Die Kiste, deren Inhalt Mama so sehr aufgewühlt hat, dass sie weinen musste.
In dieser Kiste, geht mir mit instinktiver Sicherheit auf, liegen meine Antworten.
Ich haste ins Arbeitszimmer, bin so aufgeregt, dass ich über die Türschwelle stolpere. Mein Blick fliegt vom Schreibtisch meines Vaters zum Bücherregal, vom Bücherregal zum Schrank, vom Schrank zur Kommode. Ohne nachzudenken reiße ich die Türen des Schranks auf, sehe Ordner, Papierstapel, Kisten aller Art, aber keine, die der gleicht, über die Mama sich gebeugt hat. Sie war grün, das weiß ich noch. Wo ist sie? Hinter Papas juristischen Fachbüchern? Hinter den alten Reiseführern? Fehlanzeige, überall Fehlanzeige, Mist, Mist, Mist! Ich schlage die Schranktüren wieder zu, ziehe ungeduldig die oberste Schublade der Kommode auf. Wühle mich durch Wollreste, Handarbeitsanleitungen, reiße die nächste Schublade raus, finde Kinderbilder von mir selbst, säuberlich geordnet: unser Haus, gemalt im Alter von drei Jahren, unsere Familie, gemalt mit vier, wir lachen und halten uns alle an den Händen … Habe ich damals schon von meinen Farben gesprochen? Musste ich sie damals schon vor allen verbergen? Ich schlucke, schiebe die Bilderstapel beiseite und …
… finde sie.
Mein Herz donnert gegen meine Rippen.
Ich hebe die Kiste heraus, so vorsichtig, als sei sie entweder ein Schatz oder eine Bombe mit Zeitzünder, einem, der losgehen wird, sobald ich den Deckel anhebe. Ich weiß, ich spioniere. Ich weiß, ich sollte das hier nicht tun. Und ich weiß, dass ich es definitiv tun werde.
Ich schiebe alle Schubladen wieder zu, gehe mit der Kiste in den Händen zurück in mein Zimmer. Wenn ich sie öffne, will ich mich so geborgen wie möglich fühlen. Ich will mir Sicherheit verschaffen, auch wenn mir klar ist, dass ich die Sicherheitszone schon längst verlassen habe.
Oben angekommen, lege ich die Kiste auf mein Bett, setze mich hin, schaue sie ein paar Minuten lang einfach nur an.
Dann hebe ich den Deckel ab.
Und sehe die Briefe.
Ungläubig starre ich sie an: Briefe über Briefe, alle an meine Mutter adressiert, in einer schön geschwungenen, altmodischen Handschrift – und alle, ohne Ausnahme, ungeöffnet.
Shit. Ich kann diese Briefe doch nicht einfach
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