Der Gipfel - Tragoedie am Mount Everest
Spekulationen überlassen. Ein greifbarer Beweis – die Entdeckung von Andy Harris’ Pickel zwischen Hillary Step und Südgipfel durch das IMAX/IWERKS -Team, das am 23. Mai aufstieg – hat zu der Vermutung geführt, Harris habe bei seinem Abstieg kehrtgemacht und sei wieder bergauf geeilt, um Hall (und vielleicht Hansen) zu helfen. Dabei sei er an derselben ausgesetzten und ungesicherten Stelle abgestürzt, wo beim Abstieg auch Jon Krakauer hingefallen war, dem Mike Groom zu Hilfe kommen mußte.
Was Doug Hansen betrifft, so steht nur fest, daß Hall oberhalb des Hillary Step mit ihm zusammen war, aber nicht mehr, als Hall am Südgipfel biwakierte und Nachrichten an sein Basislager durchgab. Irgendwo zwischen diesen zwei Punkten ist Hansen verschwunden.
Die Tragödie von Yasuko Nambas Tod ist vielleicht die schrecklichste, weil viel dafür spricht, daß sie vermeidbar gewesen wäre. Während sich die Japanerin knapp über Lager IV an den Fixseilen herunterkämpfte, wurde sie zu ihrem Glück von Neal Beidleman entdeckt. Er half ihr dann zusammen mit Tim Madsen bis zum Südsattel hinunter. Dort harrte sie aus, zusammen mit Beck Weathers und den anderen, die sich im tobenden Sturm zu einem »verzweifelten Haufen« zusammendrängten. Als Mike Groom, ein Führer von Adventure Consultants, mit Beidleman, Schoening und Gammelgaard den Vorstoß zum Lager unternahm, fehlte Namba und Weathers die Kraft, ihnen zu folgen. Und Groom schaffte es nicht, im Lager Teilnehmer seiner Expedition zu einem Rettungsversuch zu motivieren.
Boukreev hatte bei seinen Vorstößen in die sturmgepeitschte Dunkelheit der ersten Stunden des 11. Mai seine ganze Energie und den ganzen Sauerstoff verbraucht. Er hatte Rob Halls Leute vergebens um Hilfe gebeten. Weder er noch ein anderer hatte noch ausreichend Kraftreserven, um sich um Yasuko Namba zu kümmern. Über seine letzte Querung des Südsattels, als er Sandy Pittman ins Lager schaffte, sagte er: »Ich hatte meinen Arm voll mit Sandy. Mehr Energie hatte ich nicht. Wäre Tim nicht imstande gewesen, sich aus eigener Kraft fortzubewegen, ich hätte ihm nicht helfen können. Er wäre sehr wahrscheinlich auch ums Leben gekommen.«
Seit dieser Katastrophe wurde über die Ereignisse und die daran Beteiligten viel geschrieben und gesagt, und es sieht ganz danach aus, als würden die Mutmaßungen noch lange kein Ende finden. Eine in aller Offenheit geführte Debatte bietet gewisse Vorteile, und die Autoren haben zu den mit Sicherheit noch folgenden Diskussionen nach besten Kräften beigetragen. Man würde sich nur wünschen, daß sich die Fragen an Tatsachen orientieren und nicht an Unterstellungen und Gerüchten. Der Zukunft des Bergsteigens, zumal der kommerziellen Expeditionen, wäre durch die Wahrheit am besten gedient.
Epilog
Rückkehr zum Mount Everest
Im August 1996 verließ Boukreev die Vereinigten Staaten und kehrte in seine Heimat im Ural zurück. Im Sommer, kurz nach der Gedenkfeier für Scott Fischer, war seine Mutter gestorben.
Von den Kontroversen um den Everest hatte ich die Nase voll. Ich wollte zu Hause zur Ruhe kommen, meine Geschwister besuchen und den Tod meiner Mutter betrauern. Als ich schließlich in Kasachstan eintraf, zog es mich aber wieder in die Berge. Für ein anderes Leben war ich nicht geschaffen. Da mich die Achttausender, die ich noch nicht bestiegen hatte, lockten, wollte ich unbedingt weitermachen. Es ist ein einsames und eigenartiges Leben, das vielen unbegreiflich ist. Für mich aber bedeutet es Heimat und Beruf zugleich.
Boukreev kehrte nach Nepal zurück und bestieg am 25. September 1996 ohne zusätzlichen Sauerstoff den Cho Oyu (8201 Meter) und am 9. Oktober den Shisha Pangma (Nordgipfel, 8008 Meter).
Im Herbst besuchte Boukreev in Kathmandu das Büro seines Freundes Ang Tshering von Asian Trekking, der ihm ein Angebot unterbreitete. Ein indonesisches Team wollte im Frühjahr den Mount Everest über den Südostgrat besteigen, über dieselbe Route, die er im Jahr zuvor mit Scott Fischer gegangen war. Nach reiflicher Überlegung ließ sich Boukreev als leitender Berater für alpinistische Belange verpflichten.
Die Aussicht, eine Expedition auf den Everest zu führen, war aus zweierlei Gründen verlockend. Da ich mit dem Berg gefühlsmäßig noch eine Rechnung offen hatte, wollte ich an den Schauplatz der schrecklichen Katastrophe vom Frühjahr zurückkehren. Gewisse Dinge waren mir persönlich wichtig. So wollte ich Scott und Yasuko Namba
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