Der Gladiator
Durchhaltevermögen fehlte. Heute hast du Kraft, Durchhaltevermögen und dazu Erfahrung, aber dir fehlt die Hurtigkeit der Jugend. Ich weiß nicht, was besser ist, das eine oder das andere. Am gefährlichsten aber kann dir deine Sattheit werden. Früher hast du ums Überleben gekämpft, du mußtest in die Arena, wolltest du nicht verhungern. Heute willst du kämpfen, du willst an deinen früheren Ruhm anknüpfen, willst die Massen in Ekstase versetzen und bist sicher, das Volk auf den Rängen würde dich begnadigen, wenn du einen Kampf verlörest. Auf diese Weise spielst du mit deinem Leben; denn viel zu oft ist das Schwert des Gegners schneller als der Daumen deiner Anhänger.«
Vitellius zerrte die Lederbandagen an seinen Fäusten fest, er schob den Unterkiefer vor, daß seine Zähne blitzten, und musterte den pendelnden Baumstamm. Dann rammte er seine Rechte gegen das schwere Trainingsgerät, daß er vor Schmerz zusammenzuckte. »Ich habe mir vorgenommen zu kämpfen«, stieß der Gladiator mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor, »und ich will siegen. Als ich neulich den Bau des Amphitheaters vor dem Kaiserpalast besichtigte, da hörte ich auf einmal die Massen von den Rängen rufen ›Vitellius! Vitellius!‹, und in mir wurden neue Kräfte wach. Ich kämpfte gegen Retiarier und wilde Tiere, und ich eilte von einem Sieg zum anderen, und ich wußte, daß es auf dieser Welt für mich nur den Beruf des Gladiators gibt!«
Polyclitus machte eine abwehrende Handbewegung. »Der Mensch lebt allzugerne von seinen Erinnerungen, und viele verhungern dabei. Wenn du in die Arena zurückkehrst, dann mußt du alles vergessen, was vorher war, du mußt ganz von vorn anfangen und jeden Sieg neu erkämpfen, als wäre es dein erster Auftritt im Circus.«
»Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis ich den ersten Kampf wagen kann?«
»Wie lange ist es her, seit du zuletzt in der Arena standest?« fragte Polyclitus zurück.
»Acht Jahre, denk' ich, sind es wohl …«
Der Lanista scharrte mit dem Fuß im Sand. »Vitellius, du bist ein großer Kämpfer, du hast Männer in den Tod geschickt, die zu den bedeutendsten Gladiatoren Roms zählten. Das geschah, weil du hungrig warst. Jetzt hast du viele Jahre im Überfluß gelebt; wenn ich mich um dich sorge, dann deshalb.«
»Also wie lange?« bohrte Vitellius weiter.
Nach langem Nachdenken meinte Polyclitus: »Wenn wir das Training aufnehmen wie in alten Zeiten, dann bist du in einem Jahr wieder soweit, daß ich dich in die Arena schicken kann.«
Vitellius strahlte über das ganze Gesicht. Wie ein kleiner Junge trommelte er mit den Fäusten auf die nackte Brust und hüpfte übermütig von einem Bein auf das andere. »Ich werde hart an mir arbeiten, und ich werde all den Grünschnäbeln zeigen, wer der größte Gladiator Roms ist!«
Die Nacht war schwül. Seit Wochen lechzte die Erde nach Regen, und das schrille Konzert der Zikaden ließ Vitellius keinen Schlaf finden. Obwohl er sich in seinem alten Haus an der Via Appia wohlfühlte, war ihm die ehemals so vertraute Gegend noch immer ungewohnt, beinahe unheimlich. Der Gladiator lauschte in das Dunkel. Im Zirpen der Grillen war deutlich ein dumpfes, fernes Hämmern zu vernehmen. Vitellius setzte sich auf: Da war es wieder! Dumpfe Schläge, deren Richtung man nicht ausmachen konnte. Schließlich warf er sich die Tunika über und schlich die Treppe hinab in den Garten, wo der Zikadengesang noch unerträglicher wurde. Und auch hier war das Klopfen und Hämmern zu vernehmen. Der Gladiator drehte sich nach allen Seiten, um die Richtung der Geräusche festzustellen – vergeblich, sie kamen von überall her.
Jetzt hörte er auch Schritte. Vitellius trat hinter einen Oleanderbusch. Auf der Straße näherte sich ängstlich um sich blickend eine Frau mit einem Bündel. Was war der Grund für ihre Vorsicht? Der Gladiator zögerte einen Augenblick. Hatte die Frau etwas mit den seltsamen Geräuschen zu tun? Vorsichtig versuchte er, ihr zu folgen.
Kaum hundert Schritte von seinem Haus entfernt, bog die Gestalt nach links ab. Als er selbst an die Stelle kam, starrte Vitellius verblüfft in die Dunkelheit – die Gestalt war verschwunden, als habe sie der Erdboden verschluckt. Jetzt konnte man auch die dumpfen Schläge nicht mehr vernehmen. Vitellius ging zurück, legte sich auf sein Bett und starrte mit offenen Augen in die Dunkelheit.
Auch in der folgenden Nacht fand der Gladiator keinen Schlaf. Er blickte vom Fenster in den dunklen Garten,
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