Der Gladiator
Ein Erlaß des Kaisers hatte alle Juden aus Rom verbannt. Sie seien ständige Unruhestifter und widersetzten sich der Majestät des Kaisers, hieß es. Die Frachter, die Getreide aus Ägypten und Nordafrika nach Rom brachten, nahmen die Juden auf der Rückreise mit, ein gnadenloser Exodus.
Kinder und junge Leute schluchzten. Sie waren in Rom geboren, hatten sich hier zu Hause gefühlt, sie wollten nicht in ein fernes fremdes Land. Familien wurden auseinandergerissen, viele Juden waren untergetaucht, aus der Stadt geflohen, hatten sich gefälschte Bürgerrechtsurkunden erkauft. Vielleicht die Hälfte aller Juden Roms konnte auf irgendeine Art der Ausweisung entgehen. Doch übrig blieben immer noch Tausende. Sie trugen ihre Bündel auf dem Rücken und sangen herzzerreißende Klagelieder, die selbst bei den hartgesottenen Römern am Straßenrand Gefühle der Wehmut erregten. Ostia war eine Hafenstadt mit verschiedenen Gesichtern. Um den eigentlichen Hafen herum, seit Claudius eine einzige Baustelle, scharten sich die winzigen Häuser der Fischer und Schiffer, Läden, Bordelle und Vorratshäuser. Von überall sichtbar der neue Leuchtturm, eine Kopie des legendären Weltwunders von Pharos. Der Stadtkern war überwiegend mit vierstöckigen Insulae bebaut. In den Außenbezirken hingegen bewohnten reiche Geschäftsleute und gutbetuchte Römer großzügige Villen wie in einem luxuriösen Seebad.
Die Quästoren von Ostia hatten an der Hafenmole Registrierungsstellen eingerichtet. Jeder Jude, der ein Schiff bestieg, mußte sich abmelden. Die Schlange weinender oder resigniert vor sich hinblickender Menschen reichte von der Mole bis zur Tibermündung. Die Angst vor der Zukunft stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
Vitellius hastete an den Menschen entlang. »Kennt jemand ein Mädchen namens Rebecca?« fragte er immer wieder. Einige schüttelten den Kopf, andere antworteten, sie würden eine Rebecca kennen, aber immer wieder stellte sich heraus, daß es nicht die gesuchte war. Er ging weiter, blickte in zahllose Gesichter, aus denen ihm Trauer und Wehmut entgegenblickten. Rebecca war nicht zu finden.
Vielleicht hatte auch sie sich versteckt, war vor den Soldaten des Kaisers geflohen. Am Ende der Schlange sah Vitellius die zahllosen Schiffe, die hier festgemacht hatten, breitrumpfige Segler, grau vom Getreidestaub, primitive Fahrzeuge ohne irgendwelche Vorrichtungen für den Transport von Menschen. Bis zu hundert Juden wurden auf einem dieser Frachtkähne zusammengepfercht, versuchten zwischen den Holzverschlägen ihre Bündel zu verstauen und einen Sitz- oder Schlafplatz zu erhaschen.
»Bist du nicht der Jüngling, der mich neulich nach Kaatha fragte?« Vitellius drehte sich um und erkannte den Mann, den er in Transtiberim angesprochen hatte. »Ja gewiß«, sagte Vitellius, »ist er hier?« – Der Fremde schwieg; Vitellius wartete auf Antwort. »Hast du Rebecca gesehen?« fragte er erneut.
»Rebecca? – Ja«, sagte der Mann. »Aber« – er schaute sich um, ob ihnen niemand zuhörte – »Kaatha hat sich abgesetzt.«
»Er läßt Rebecca alleine fahren?«
Der Jude hob die Schultern.
»Wo ist Rebecca? Ich habe überall nach ihr gesucht.«
»Da«, antwortete der Mann. Er zeigte auf den Hafen. »Sie muß in einem der ersten Schiffe sein.«
Vitellius dankte und lief in die Richtung, in die der Fremde gezeigt hatte. Hastig wanderten seine Augen über das Durcheinander von Menschen und Gepäck in den Schiffen. Und da – eingepfercht in einen Frachter – saß Rebecca, den Kopf in die Hände gestützt, den Blick auf das Festland gerichtet.
»Rebecca!« rief er und winkte mit beiden Armen. »Rebecca!« schrie er, so laut er konnte. Die Kommandos der Mannschaften, die gerade Segel setzten, übertönten Vitellius' Rufe. Da riß er sich die Tunika vom Leib und sprang ins Meer.
Im Schiff das gerade ablegte, wurde jemand auf den Schwimmer aufmerksam. Er stieß Rebecca an und zeigte ins Wasser. Jetzt hatte auch sie ihn erkannt. Verzweifelt stieß sie die Menschen im Schiff beiseite und drängte sich zur Bordwand. »Vitellius! Vitellius!« Rebecca streckte ihm hilflos die Arme entgegen. Ihre Augen weinten, ihr Mund versuchte ein zaghaftes Lächeln, dabei wiegte sie den Kopf hin und her. Der Ausdruck in ihrem vom Schmerz gezeichneten Gesicht schien eine einzige Frage zu formulieren: Warum?
Knatternd fuhr der Wind in die Segel und drängte den Frachter von der Mole ins Meer hinaus. Erschöpft schwamm Vitellius ans Ufer zurück
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