Der gläserne Schrein (German Edition)
nichts anmerken zu lassen. «Nein, Mutter, es ist alles in Ordnung. Das Wetter hat uns überrascht, aber wir konnten in einer Herberge in Burtscheid unterkommen. Wie geht es Bardolf? Warum haben sie ihn plötzlich freigelassen?»
Jolánda hakte sich bei ihrer Tochter unter und winkte Christophorus, ihnen ins Haus zu folgen. «Reimar van Eupen war hier», berichtete sie. «Er ist Schöffe, wie du weißt, und teilte uns gestern Nachmittag mit, nach der letzten Befragung sei das Schöffenkolleg zu dem Schluss gekommen, dass es nicht genügend Beweise gibt, um Bardolf länger im Gefängnis festzuhalten. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh wir alle waren, als er gestern Abend nach Hause kam!» Sie wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Augen. «Bardolf sitzt in der Stube. Er ist noch immer sehr erkältet, aber die Wärme und das bequeme Bett heute Nacht haben ihm gutgetan.»
Als sie die Stube betraten, kam Bardolf ihnen bereits lächelnd entgegen. Er war sehr blass und seine Nase ziemlich gerötet, doch insgesamt wirkte er einigermaßen ausgeruht. Marysa umarmte ihn überschwänglich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. «Ich bin so froh, dass du wieder hier bist», sagte sie und drückte ihn noch einmal an sich.
Bardolf lachte, was sich wie ein heiseres Krächzen anhörte. «Du glaubst gar nicht, wie froh ich erst bin, Marysa. Sie haben mich keinen Tag zu früh freigelassen, wie mir scheint, nach dem freundlichen Besuch, den wir heute früh schon hier begrüßen durften.»
«Besuch?», fragte Marysa erstaunt.
Jolánda nickte und wies auf die Stühle beim Esstisch. «Setzt euch. Hartwig war hier, Marysa. Er war fuchsteufelswild wegen der Sache mit dem Marienstift. Scheiffart hat ihn anscheinend vorladen lassen und ihm vorgeworfen, sich auf unlautere Weise den Auftrag verschaffen zu wollen, der dir zugedacht war.»
Marysa fasste sich an den Kopf. Das hatte sie ganz vergessen. «Wurde Hartwig deswegen bestraft?»
«Nein», antwortete Bardolf. «Wie es aussieht, ist er mit einer Verwarnung davongekommen. Aus dem, was ich aus seinem Gebrüll heraushören konnte, war zu entnehmen, dass er sich wohl herausgewunden hat, weil er behauptet hat, er sei in Sorge um dein Wohl gewesen.»
«Das ist ja wohl ein Scherz!», rief Marysa aufgebracht. «Er wollte mir eins auswischen und dann den Auftrag für die Reliquienschreine selbst einheimsen! Ich werde …»
«Nichts werdet Ihr.» Christophorus legte ihr begütigend eine Hand auf den Arm. Sofort zuckte sie zusammen und blickte ihn erschrocken an.
Betont langsam zog er seine Hand wieder zurück. «Für die Probleme, die Euer Vetter Euch macht, werden wir schon eine Lösung finden.»
***
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es Bardolf gut ging, beschloss Marysa, noch vor dem Mittag beim Zunfthaus vorbeizuschauen und zu fragen, was Meister Alberich mit ihr zu besprechen hatte.
Christophorus begleitete sie auch diesmal und wartete in dem kleinen Empfangsraum des Zunfthauses, während Marysa dem Zunftgreven in einen der hinteren Räume folgte.
Meister Alberich, ein grauhaariger Mann mittleren Alters mit kugelrundem Bauch und Tränensäcken unter den Augen, empfing Marysa mit ausgesuchter Höflichkeit, hinter der sich aber ein offensichtliches Unwohlsein verbarg, denn sein Lächeln erreichte nicht seine Augen.
«Ich freue mich, dass Ihr so rasch auf meine Einladung hergekommen seid, Frau Marysa», begann er und führte sie in den Versammlungsraum der Zunft, der von einem langen rechteckigen Tisch beherrscht wurde, an dem etwa zwanzig Personen Platz finden konnten. Heute waren nur drei Stühle besetzt; außer Meister Alberich befanden sich noch zwei ältere Zunftmeister im Raum, Michel Snackart und Heynrich van Bungart. Beide lächelten ihr freundlich zu, als sie eintrat, machten jedoch keine Anstalten, selbst den Raum zu verlassen.
Meister Alberich rückte ihr einen Stuhl zurecht und räusperte sich umständlich. «Wie Ihr seht», begann er, «habe ich gerade mit Meister Snackart und Meister van Bungart gesprochen, unter anderem auch über Euch.»
«Über mich?» Marysa blickte argwöhnisch zwischen den drei Männern hin und her.
«Ja, nun», verlegen rieb sich Meister Alberich übers Kinn. «Es ging um Eure familiäre Situation, Frau Marysa. Versteht mich nicht falsch, wir haben keinen Moment lang gezweifelt, dass man Meister Goldschläger zu Unrecht ins Gefängnis gebracht hat. Als wir hörten, dass er freigelassen wurde, waren wir sehr
Weitere Kostenlose Bücher