Der gläserne Schrein (German Edition)
Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, die Gelübde endgültig abzulegen. Meinen Mentor und Beichtvater, Bruder Achatius, muss das sehr geschmerzt haben, aber er drängte mich nie. Er lehrte mich Latein, Lesen und Schreiben, Gesang und vieles mehr. Ich arbeitete in der hauseigenen Werkstatt als Tischler und später als Schnitzer, fand aber auch Gefallen an der Kunst der Schönschrift.» In seinen Augen blitzte es kurz. «Nicht nur Bruder Achatius bewunderte mein Geschick, fremde Handschriften nachzuzeichnen, sodass man hinterher nicht sagen konnte, welches Schriftstück das Original war.»
«Da hast du also das Fälschen gelernt», stellte Marysa fest.
Christophorus nickte. «Gewissermaßen. Irgendwann nahm Vater Achatius mich mit auf eine Pilgerreise nach Trier, und auf dem Rückweg lief ich dann einfach fort. Ich weiß nicht, weshalb ich es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt tat. Ich wollte heraus aus den strengen Regeln des Konvents und sehen, was die Welt noch zu bieten hatte.»
«Und wurdest Ablasskrämer», fügte Marysa stirnrunzelnd hinzu.
«Von etwas musste ich ja leben», bestätigte Christophorus unumwunden. «Da ich wusste, dass meine Fälschungen sehr gut waren, versuchte ich es einfach. Ich kannte mich im Ordensleben aus, konnte mich also gefahrlos in jedem Dominikanerkonvent als Mitbruder ausgeben. Natürlich hielt ich mich zunächst nur an Orten auf, wo mich ganz bestimmt niemand erkennen würde. Mit der Zeit kam ich viel herum. Nachdem ich gelernt hatte, wo ich nach ihnen Ausschau halten musste, fand ich auch jene Männer, die Abdrücke von Siegeln anfertigen – gegen hohe Geldsummen natürlich. Auf diese Weise konnte ich mir nach und nach eine vollkommen neue Identität erschaffen.»
Marysa nickte finster. «Was war mit deinem Bruder?»
«Ich traf ihn hin und wieder während meiner Novizenzeit, auch später auf meiner Wanderschaft», erzählte Christophorus bereitwillig weiter. Jetzt, da er einmal damit begonnen hatte, spürte er, dass es ihm guttat, all die längst vergangenen Erlebnisse noch einmal auszusprechen. «Allerdings verschwieg ich ihm, dass ich aus dem Konvent geflohen war und nie die Gelübde abgelegt hatte. Er hätte es nicht verstanden.» Christophorus hielt kurz inne. «Robert hatte eine Weile in Heidelberg studiert. Mit der Zeit hatte er sich zu einem noch sonderbareren Menschen entwickelt. Wir konnten kaum Gemeinsamkeiten finden, sprachen nur wenig miteinander. Dennoch spürten wir eine tiefe Verbindung, die niemals abriss. Er ging irgendwann außer Landes, um in heidnischen Gebieten zu missionieren. Zwei Jahre später traf ich ihn zufällig wieder.» Jetzt brach er endgültig ab und starrte vor sich hin.
Marysa wartete eine Weile. Da er nicht weitersprach, drückte sie seine Hand. «Was war geschehen?»
Als wachte er auch einem Traum auf, zuckte Christophorus zusammen und richtete seinen Blick wieder auf Marysas Gesicht. «Robert war am Aussatz erkrankt und hatte beschlossen, als Einsiedler in einer abgelegenen Klause zu leben.»
Marysa zuckte entsetzt zusammen.
Christophorus atmete tief ein. «Es ging ihm nicht gut, deshalb suchte ich ihn regelmäßig auf, sooft ich in der Nähe war. Eines Tages fand ich ihn tot in seiner Hütte. Er war schon … Niemand hatte bemerkt, dass er gestorben war. Ich ließ ihn auf dem Friedhof des Dorfes, das seiner Klause am nächsten lag, bestatten.» Jetzt lächelte er plötzlich wieder. «Ein halbes Jahr später begab ich mich auf die Pilgerreise nach Santiago de Compostela, wo ich deinem Bruder begegnete.» Er ließ ihre Hand los und streichelte mit den Fingerspitzen über ihre Wange. Dann strich er ihr eine lange rotbraune Haarsträhne aus der Stirn. «Ich glaube, ich weiß jetzt, warum Aldo wollte, dass ich nach Aachen gehe.»
Marysas Herz begann unerwartet heftig zu pochen. «Er war überzeugt, dass ich dir verzeihe, wenn ich deine Geschichte kenne», sagte sie mit leicht schwankender Stimme.
Christophorus blickte sie aufmerksam an. «Ist es so?»
Marysa hob die Hand und umfasste das silberne Kreuz, das er um den Hals trug. «Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, gar nichts mehr zu wissen.»
«Ich liebe dich, Marysa.» Dass ihm die Worte derart leicht über die Lippen kommen würden, hatte Christophorus nicht erwartet. Doch sie fühlten sich richtig an. Abwartend betrachtete er ihr Gesicht, in dem sich kurz hintereinander mehrere verschiedene Gefühlsregungen abzeichneten. Erst Überraschung, dann Furcht und zum
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