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Der gläserne Schrein (German Edition)

Der gläserne Schrein (German Edition)

Titel: Der gläserne Schrein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Schier
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Verwirrung zu stürzen. Auf diese Weise gewann er ihr Vertrauen ganz gewiss nicht.
    Verblüfft hob er den Kopf, als er von unten Lautenklänge vernahm. Neugierig stand er auf und stieg leise die Stiege hinab. An der Tür zur Stube blieb er stehen. Er blickte überrascht auf Marysa, die ein frommes Lied über die Dreifaltigkeit sang. Ihr Gesinde und die beiden Gesellen saßen um sie herum und hingen ihr geradezu andächtig an den Lippen.
    Christophorus kannte das Lied, er hatte es auf Wanderschaft selbst schon oft gesungen, um sich die Zeit zu vertreiben. Es jetzt aus Marysas Mund zu hören, vorgetragen mit ihrer glockenhellen, lieblichen Stimme, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Ohne weiter darüber nachzudenken, stimmte er bei der dritten Strophe in ihren Gesang mit ein:
«Got dem vater dem sey er
und auch seinem aingeporn sun
mit dem heyligen geist
ymmer ewikleichen Amen»
    Marysa erschrak, als sie Christophorus’ sonore, wohltönende Singstimme vernahm, und hob kurz den Kopf. Er stand an der Tür – wie lange hatte sie ihn dort nicht bemerkt? Hatte er sie beobachtet? Ihr wurde unnatürlich warm bei diesem Gedanken. Nachdem das Lied beendet war, murmelten alle ein «Amen» und bekreuzigten sich.
    Umsichtig legte Marysa ihre Laute auf den Tisch und stand auf. «Wir sollten nun zu Bett gehen», sagte sie. «Wenn wir noch länger aufbleiben, sind wir morgen alle unausgeschlafen.»
    «Bitte eines noch, Herrin», bat Imela, deren Tränen inzwischen getrocknet waren. «Ihr singt so schön!»
    Da auch die anderen in der Runde zustimmend nickten, ließ sich Marysa langsam wieder auf ihren Sitzplatz sinken, nahm ihre Laute erneut zur Hand und schlug versuchsweise ein paar Akkorde an.
    Christophorus trat nun ganz in die Stube und setzte sich ans andere Ende des Tisches. Noch bevor sich Marysa für ein weiteres Lied entscheiden konnte, begann er:
«Mariam Matrem Virginem attolite,
Jesum Christum extolite Concorditer …»
    Marysa liebte dieses Marienlied, das sonst nur vom Augustinerchor während der Messe angestimmt wurde. Sie hatte es bereits so oft gehört, dass sie mitsingen konnte, obgleich sie die Worte nicht verstand.
«Maria, saeculi asilum, defendenos.
Jesu, tutum refugium, exaudi nos.
Jam estis vos totaliter diffugium,
totum mundi confugium realiter.»
    Auch die zweite Strophe sang sie gemeinsam mit Christophorus. Sie spürte die bewundernden Blicke ihres Gesindes und musste selbst zugeben, dass ihre Stimme mit der von Bruder Christophorus wunderbar harmonierte. So gut, dass sie beinahe enttäuscht war, als die letzte Strophe verklang.
    Entschlossen legte Marysa ihre Laute endgültig beiseite und verließ nach einem kurzen Gruß in die Runde den Raum.
***
    Am Morgen hatte sich das Unwetter verzogen; der Sturm in Marysas Herz hatte sich jedoch längst nicht gelegt. Sie hatte sich in der Nacht unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt, jedoch kaum Schlaf gefunden. Ständig dachte sie an Bardolf in seiner finsteren, sicher eiskalten Gefängniszelle. Hatte sie es endlich einmal geschafft, diese schlimmen Bilder von ihrem inneren Auge zu verscheuchen, schob sich die Erinnerung an den vergangenen Abend in ihr Gedächtnis. Fast meinte sie noch immer, Christophorus’ sanftes Streicheln an ihrem Hals zu spüren und ihrer beider Stimmen beim Gesang zu hören.
    Gerädert und übellaunig stand sie schließlich vor Morgengrauen auf und setzte sich in ihr Kontor. Den Kopf in die Hände gestützt, brütete sie über dem Auftrag des Marienstifts. Sie ignorierte sogar Balbina, als diese sie wegen des Frühstücks aufsuchte.
    Die Schnitzereien für die Schreine machten ihr noch immer zu schaffen. Gleich am Montag musste sie unbedingt im Zunfthaus wegen eines talentierten Gesellen anfragen. Flüchtig erwog sie, einem der anderen Zunftmeister den Vortritt zu lassen und auf den Auftrag zu verzichten. Aber das kam gar nicht in Frage. Mit ziemlicher Sicherheit würde Hartwig sich dabei vordrängen. Als zukünftiger oberster Zunftgreve würde es ihm ohnedies nicht schmecken, dass Scheiffart ihn nicht gleich ausgewählt hatte.
    Erschöpft rieb sie sich die Augen und erschrak, als sie den Kopf hob, denn Bruder Christophorus stand vor ihr.
    «Frau Marysa, Ihr solltet etwas essen», sagte er ruhig und durchaus freundlich. Dennoch zog sie die Brauen zusammen und funkelte ihn ärgerlich an.
    «Ihr bewegt Euch ausgesprochen leise, Bruder Christophorus», fauchte sie. «Macht Ihr es Euch zur Gewohnheit, mich heimlich zu

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