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Der gläserne Wald

Der gläserne Wald

Titel: Der gläserne Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinald Koch
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der Treppe nehme ich die schwere Peitsche vom Gürtel. Mein kleines silbernes Spielzeug habe ich zwar noch immer, doch diese wird auf die Sammler einen besseren Eindruck machen.
    Ich schiebe den Riegel der doppelflügeligen Tür beiseite und springe rasch einige Schritte zurück. Beide Flügel werden gleichzeitig aufgestoßen. Eng gedrängt quellen mir die Sammler entgegen. Ich halte mich nicht damit auf, sie mit dem Knall meiner Peitsche einzuschüchtern, denn das hätte gegen das schreckliche Donnern draußen nur lächerlich gewirkt. Ich schlage gezielt. Nach einigen Hieben taumeln die Sammler in den Lagerraum zurück. Ich sehe blutige Striemen auf ihren Leibern.
    Meine Peitsche arbeitet unablässig. Einige lassen sich vor mir zu Boden fallen; das ist besonders ärgerlich, denn sie sollen sich nicht ergeben, sondern ihre Kraft einsetzen, die anderen weiter hinten in den Lagerraum zurückzudrängen. Schließlich habe ich die große Tür wieder frei, und die Menge beginnt vor mir ins Lager zurückzuweichen. Meine Peitschenschnur reicht in alle Schlupfwinkel, die sie hier finden können, und so gelingt es mir, sie in Bewegung zu halten.
    »Ihr Schneckenbäuche!« schreie ich. »Es ist Beerenernte. Lauft und sammelt! Nutzt euer heiliges Vorrecht!«
    Ich habe sie inzwischen bis zum Tor getrieben, das in die Halle mit den Farbenpressen führt. Dort haben wir die Beeren aufbewahrt, die unsere Trupps in diesem Jahr schon gesammelt hatten.
    Mit großer Anstrengung schiebe ich das Tor in seinen Schienen zur Seite und sehe dabei aus den Augenwinkeln, dass sich schon wieder einige meiner Sammler zu Boden fallen lassen. Ein Treiber reicht nicht aus, sie in Bewegung zu halten. Ich kann nicht überall zugleich sein. Tha Barga in seiner grobschlächtigen, vertrauenerweckenden Art fehlt mir sehr, aber er musste am Morgen, als wir wieder in Zaina waren, mit seiner Hundertschaft abrücken. Sonderbar – er war mir doch als militärischer Berater beigegeben worden! Dabei hat er mir kaum mehr zeigen können als die wichtigsten Straßen von Zaina. Sicher hat er mir einige Ratschläge gegeben, aber ich glaube nicht, dass das alles den Aufwand gerechtfertigt hat, ihn mit mir hin und zurück fliegen zu lassen.
    Gespenstisch flackert das Licht der sprühenden Fackeln, die die Adaporianer in den Himmel schleudern, durch die hohen Fenster der Halle und lässt die lackroten Beeren glänzen, die in Haufen auf dem Boden liegen und unruhig die langen Griffel spielen lassen.
    »Ai-i, ai-i!« schreie ich. »Auf, ihr Schneckenbäuche! Beerenernte! Ai-i, an die Arbeit!«
    Sie raffen sich auf und wanken in ihrem torkelnden Gang durch das Tor.
    Kaum haben die Sammler die Beeren gesehen, stürzen sie sich darauf und reißen sie an sich. Dabei stoßen sie ihre eigenartigen Töne aus, halb ein Wimmern, halb ein Zischen. Immer wieder erliegen die Sammler der Faszination dieser Früchte, obwohl sie den Schmerz kennen, den die Berührung verursacht. Doch ich darf ihnen keine Zeit lassen, denn ich habe keine Ahnung, was draußen geschieht, wie weit die Adaporianer schon vorgedrungen sind.
    Die große Laderampe der Färberei, die an der Straße der sieben Brunnen liegt, steht weit offen, und ich treibe die Sammler dort hinaus. Die Stadt hat sich in ein einziges Chaos verwandelt. Überall brennen Häuser, und noch immer stürmen lodernde Geschosse zum Himmel hinauf. Einzelne farbig leuchtende Bälle stehen ruhig wie kleine Sonnen über mir und tauchen uns alle in ein grelles, aber dennoch düsteres Licht. Überall ist Rauch und Feuer. Ich blicke die Straße der sieben Brunnen hinab, die schnurgerade auf das Alte Stadttor zuführt. Vom Tor ist allerdings nichts mehr zu sehen. Nur aufgeworfene Quadern und Erdmassen liegen am Ende der Straße. Das passt gut zu meinem Vorhaben, denn vom Schornstein aus konnte ich sehen, dass die Adaporianer nur an drei Stellen die Mauer aufgebrochen haben. Dort werden sie vermutlich auch angreifen. Ich muss also meine Sammler nur die Straße hinuntertreiben, um auf die Adaporianer zu treffen. Die Sammler sind unsicher in dieser für sie fremden Umgebung und benehmen sich tölpelhafter denn je. Oft muss ich die Peitsche kreisen lassen oder mich mit einer raschen Wendung aus dem gefährlichen Bereich einer Beere bringen. Es sind immerhin 200 Sammler, und die Straße ist nur etwa dreißig Meter breit. Darum muss ich den Trupp sehr tief staffeln. Während bei der Beerenernte ein Aufseher eine lockere Kette treibt und nur von Seite zu

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