Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
ihr bis tief in die Seele drang. War es ihr Schicksal, all die männlichen Freunde zu verlieren, die ihr etwas bedeuteten, zuerst Jay und jetzt auch noch Robert? Sie mochte Robert nicht wie einen Ehemann und Liebhaber lieben, aber die Liebe hatte schließlich viele Facetten. Und nun würde sie von ihm getrennt leben müssen, während sie sich auf die Geburt ihres Kindes und das formelle Ende ihrer Ehe vorbereitete. Sie vermisste den Robert, den sie geheiratet hatte, sehr. Dieser Robert, Ottos Robert, war nicht ihr Robert. Dieser Robert würde ihr, wie er bereits angekündigt hatte, niemals verzeihen.
Amber schaute durch die Fenster des königlichen Ruheraums in Osterby, wie das kleine Zimmerchen neben dem Schlafzimmer in den Prunkräumen genannt wurde, und ließ den Blick über den Landschaftsgarten zum Graben schweifen, hinter dem die Rehe im Park das Futter fraßen, das man ihnen auf den verharschten Schnee gestreut hatte.
Mehrere bitterkalte Frostnächte nach einem Schneefall hatten die Landschaft in ein herrliches Kontrastbild von Schwarz und Silberweiß verwandelt.
Am nächsten Tag würde ihre Großmutter mit Greg und Rose nach Macclesfield zurückkehren, am Tag darauf würden Robert und Luc nach London fahren und Robert würde Luc ins Internat bringen, während sie in Osterby bleiben sollte.
Sie hatte viel zu tun, und außerdem war sie nicht in der Stimmung für Gesellschaft. Ihr schmerzte immer noch der Kopf von der Konfrontation mit Greg, als der sich wieder einmal über Blanches Testamentsänderung beschwert hatte.
Bildete sie es sich nur ein, oder sah ihr Cousin wirklich so aus, als ginge es ihm gesundheitlich noch schlechter, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte? Er wirkte jedenfalls dünner, und die geplatzten Äderchen auf seiner Nase und seinen Wangen traten noch deutlicher hervor. Seine Zähne hatten sich verfärbt, und Amber musste, zwischen Mitleid und Verzweiflung hin- und hergerissen, den Blick abwenden, wenn sie sah, wie seine Hände zitterten oder wie er mitten im Satz den Faden verlor und einfach verstummte.
Sie brauchte etwas frische Luft, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, und auch den traurigen Geruch nach Verzweiflung und Schuld, den das Haus zu verströmen schien.
Wie alle Landsitze besaß auch Osterby einen Raum, wo allerhand Arbeitsmäntel, Hüte und Gummistiefel aufbewahrt wurden, doch Amber ging nach oben, um sich ihren eigenen warmen Tweedmantel anzuziehen. Sie wand sich einen Schal um Hut und Hals und schlüpfte in ein paar feste Schuhe, bevor sie in die eiskalte Luft hinaustrat.
Es war so kalt, dass ihr Lungen und Nase brannten, und obwohl sie Handschuhe trug, musste sie die Hände tief in die Taschen ihres Tweedmantels stecken, um nicht zu frieren. Sie ging über die Terrasse und dann die Stufen hinunter in den formellen Garten, und von dort aus in den eigentlichen Park.
Die Rehe schauten desinteressiert auf, als sie an ihnen vorbeiging. Ihr Kummer lag ihr bleischwer auf der Brust. Robert würde ihr niemals verzeihen, dass sie ihn von Otto getrennt hatte, und doch täte sie es wieder, wenn sie noch einmal vor dieser Entscheidung stünde.
Der Klang von Lucs Gelächter holte sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und entdeckte Robert und Luc, die auf sie zukamen. Luc rannte mit seinem Hund voraus.
»Schau, Mummy, wie schlau Bruno ist«, rief er aufgeregt, bückte sich nach dem Ball, mit dem der Hund gespielt hatte, und schleuderte ihn in ihre Richtung.
Amber sah, wie er in hohem Bogen auf sie zuflog, ohne darauf zu achten, dass ihr der Hund vor die Füße lief, und im nächsten Augenblick war sie auch schon über ihn gestolpert.
Sie hörte sich im selben Moment aufschreien, da Roberts Warnruf ertönte, und dann sah sie ihn auf sich zurennen, während sie auf dem Boden lag und von einem scharfen Schmerz durchbohrt wurde.
Robert kniete neben ihr, Luc stand unsicher daneben. »Alles in Ordnung?«, fragte Robert heiser.
»Ich weiß nicht. Mein … ich habe Schmerzen.«
Sie sah die Erkenntnis dunkel in seinen Augen aufschimmern. Er wandte sich ab und schaute zum Haus. Er würde sie hier liegen lassen. Schmerz und Schuldgefühle stritten sich in ihr, doch am Ende behielt der Schmerz die Oberhand. Darüber hörte Amber, wie Robert sagte: »Luc, sei ein guter Junge und lauf zum Haus. Sag Bates, er soll Dr. Archer anrufen. Schnell. Sag ihm, dass es dringend ist.«
Die Schmerzen waren so heftig, dass sie kaum noch Luft bekam.
»Komisch, wie sich manche Dinge
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