Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
regeln«, stieß sie hervor, während Robert neben ihr saß und ihre Hand hielt. »Wir wollen dieses Kind beide nicht. Ich frage mich, ob es das spürt.«
»Sei still.« Roberts Hand schloss sich fester um ihre. Dann sah er auf. »Deine Großmutter kommt und, wie es aussieht, der halbe Haushalt.«
»Es tut mir leid, Robert, furchtbar leid«, wisperte Amber, als sie erneut eine Schmerzwelle erfasste und schließlich in die Dunkelheit hinabzog.
Langsam kam sie zu sich; als erster Sinn kehrte der Geruchssinn zurück: Sie roch Frost und Erde und ihre eigene Angst, die sich mit dem Parfüm ihrer Großmutter vermischte.
Widerstrebend schlug sie die Augen auf. Blanche hatte Roberts Platz übernommen und blickte grimmig auf sie herab.
»Was für ein Irrsinn, bei so kaltem Wetter spazieren zu gehen«, schalt sie, als hätte sie das mit dem Baby irgendwie schon erraten.
»Der Arzt ist da«, meldete Robert.
Dr. Archer war ein altmodischer Landarzt von ruhigem Wesen und langsamer Sprechweise. Unter seiner Anleitung wurde Amber auf einer Trage in ihr Zimmer hinaufgebracht, wo er sie gründlich untersuchen wollte.
»Ich vermute, Sie haben sich die eine oder andere Rippe gebrochen«, erklärte er.
Er wandte sich Robert zu, der sich zu ihm hinunterbeugte und ihm etwas zuraunte.
»Ah, ja, verstehe. Nun denn, dann müssen wir einfach das Beste hoffen …«
Der Arzt blieb eine ganze Stunde. Nachdem er gegangen war, kam Robert zu ihr ins Zimmer.
»Hast du mit Dr. Archer gesprochen?«, fragte sie teilnahmslos.
»Ja. Du sollst ein paar Tage ruhen, und falls du anfängst zu bluten, müssen wir ihn sofort rufen lassen.«
»Ja«, stimmte Amber ihm zu.
Robert war ans Fenster getreten, das auf den Park hinausging, in dem Amber spazieren gewesen war. Als er sich wieder umdrehte, war seine Miene düster und verschlossen, sodass sie nicht sagen konnte, was er dachte.
Während der Nacht blutete sie ein wenig, sagte aber niemandem Bescheid. Sie zog sich ganz in sich selbst zurück, zog sich zurück von dem Kind in ihrem Leib und verschloss sich vor dem lauten Protest ihres Mutterinstinkts, doch am Morgen hatte die Blutung aufgehört, und am Ende der Woche verkündete Dr. Archer, das Baby sei in Sicherheit und sie könne wieder aufstehen.
Ihre Schuldgefühle drückten sie jedoch schwer. Im Kindertrakt nahm sie Rose auf den Schoß und spürte, wie ihre Liebe zu Gregs Tochter ihr das starre Herz erwärmte. Wenn sie Gregs unerwünschtes mutterloses Kind lieben konnte, warum konnte sie dann für das Kind, das in ihr heranwuchs, keine Liebe empfinden?
Sie liebte Luc um seiner selbst willen – bestimmt konnte sie das neue Kind auch lieben, wenn es erst einmal auf der Welt war. Aber was war, wenn sie es nicht lieben konnte?
Rose zappelte auf Ambers Schoß herum, weil sie merkte, dass diese in Gedanken ganz woanders war. Pflichtbewusst drückte Amber ihr einen Kuss auf den seidigen dunklen Scheitel. Roses fernöstliche Mandelaugen, die einen starken Kontrast zu ihrem makellosen englischen Rosenmündchen bildeten, verliehen ihren Zügen exotische Schönheit.
Sie wünschte, dass Greg ihrem Vorschlag zugestimmt hätte, Rose bei ihr zu lassen, wenn er und Blanche nach Macclesfield zurückkehrten, doch er war immer noch sehr zornig auf sie und hatte ihr die Bitte glattweg abgeschlagen.
Sie hatte viele Pläne für das neue Jahr geschmiedet: neue Stoffe für den Laden, hoffentlich neue Aufträge vom National Trust, ihre Idee, aus den Entwürfen ihres Vaters und Vanbrughs detaillierten Architekturzeichnungen ein Musterarchiv für Denham Place einzurichten. Doch nun musste sie die Bedürfnisse des neuen Lebens, das sie unter dem Herzen trug, an erste Stelle rücken. Dabei war ihr der Laden so wichtig.
Wichtiger als das Leben ihres Kindes?
Schuld und Groll stießen aufeinander. Sie wollte kein zweites Kind von Jean-Philippe. Wie sollte sie Jay gegenübertreten? Wenn es sein Kind gewesen wäre … Und dennoch war sie Jean-Philippe unendlich dankbar. Dankbar dafür, dass er ihr einen Teil ihrer selbst zurückgegeben hatte. Aber nicht für das Kind, das in ihr heranwuchs.
46
April 1938
»Ich verstehe ja, dass du deinen Geburtstag nicht feiern möchtest, Großmutter, aber da deine Freunde ihn feiern wollen, hast du, fürchte ich, keine Wahl«, sagte Amber trocken zu Blanche, nachdem sie sich die Klagen ihrer Großmutter angehört hatte, wie unsinnig es sei, Geld für ein Fest zu verschwenden, auf das sie gar keine Lust habe.
Jay
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