Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
ein Theater um sie, wie du es nennst, weil sie meine Nichte ist und ich sie liebe.«
»Dann ist es ja gut, dass du bald noch ein eigenes Kind bekommst, um das du Theater machen kannst.«
Amber hatte noch knapp einen Monat, bis das Baby zur Welt kommen sollte. Es war ein ruhiges Kind, das ihr kaum Probleme bereitet hatte, bis sie nach Macclesfield gekommen war. Jetzt trat das Baby jedes Mal, wenn sie Rose auf den Schoß nahm, so heftig, als wollte es die arme Rose aus ihren Armen vertreiben und zu Boden schubsen.
Anfang Mai waren die letzten Tulpen erblüht und verwandelten die Steintöpfe und Beete, die das Schaustück der formalen Gärten von Denham Place waren, in ein buntes Blütenmeer.
Jay hatte ihr erzählt, dass Harvey, der Obergärtner, seit Wochen über die Feierlichkeiten murrte und sich beschwerte, die Leute würden über seine Blumenbeete trampeln und seinen Rasen zerstören.
»Aber insgeheim ist er natürlich entzückt, denn es gibt ihm die Gelegenheit, die Gärtner der umliegenden Güter zu übertrumpfen und noch vor der Landwirtschaftsausstellung mit seinen Künsten zu prahlen.«
Jay. Das komplizierte Gewebe aus selbst auferlegten Regeln und Strafen, mit dem sie verhindern wollte, dass sie Jay unter irgendeinem Vorwand aufsuchte, verlangte, dass sie ihm nach Möglichkeit aus dem Weg ging. Ihn aus ihren Gedanken und Gefühlen verbannen zu wollen hatte sie längst aufgegeben. Und so war es vollkommen in Ordnung, Rose abzuholen, da sie wusste, dass Jay nicht dort sein würde. Überdies war ihr Besuch eine Selbstbestrafung, denn sie war sich sicher, dort auf Cassandra zu treffen.
Oberflächlich betrachtet, war es vollkommen natürlich, dass Cassandra sich mit Lydia anfreundete, schließlich waren Cassandra und Jay Cousine und Cousin. Blanche hatte sogar gesagt, angesichts Cassandras vielen Verpflichtungen finde sie es äußerst großzügig und freundlich von ihr, dass sie so viel Zeit mit Lydia verbrachte. Doch Cassandra hatte etwas an sich, was Amber abstieß, und das hatte nichts mit ihren Schuldgefühlen zu tun, weil Cassandra sie und Jay beim Küssen erwischt hatte. Wenigstens hatte Cassandra Wort gehalten und Lydia nichts erzählt, Lydia zuliebe, vermutete Amber, da sie so gute Freundinnen waren.
»Ich bin der festen Überzeugung, Jay hätte seine Frau schon vor Jahren einweisen lassen sollen, denn es ist doch offensichtlich, dass sie den Verstand verloren hat, auch wenn die Leute ihren Zustand beschönigend als Nervenschwäche bezeichnen«, hatte Blanche geradeheraus zu Amber gesagt.
»Ich finde, du bist zu hart, Großmutter«, hatte Amber geantwortet. »Lydia geht es manchmal nicht gut, aber nicht die ganze Zeit.«
Die arme Lydia, dachte Amber mitfühlend, als sie im Aprilsonnenschein barhäuptig die Auffahrt hinaufging.
Die Buchen, die die Auffahrt säumten, setzten gerade an, ihr frisches Laub zu entfalten, und der Rasen links und rechts der Auffahrt war saftig grün.
Sie überlegte, eine neue Produktlinie aus Seidenstoffen und Tapeten in den Laden einzuführen, und das filigrane Muster aus Ästen und Laub beflügelte ihre Phantasie. Sie konnten Chamois- und Salbeitöne nehmen mit weichen Kohlestrichen, kaum mehr als einige skizzierte Linien. Der Laden lief gut; Amber brauchte nur die Tür zu öffnen und einzutreten, ihre Lunge mit dem Duft nach Seide und ihre Sinne mit ihrer Schönheit zu füllen, um von einem Gefühl des Erfolgs beseelt zu werden. Dieser Erfolg bedeutete ihr so viel. Sie hatte große Pläne für die Zukunft, Pläne, die auf ihrer Verbindung zu James Lees-Milne und dem National Trust und dessen wachsendem Archiv antiker Seidenstoffe beruhten.
Um zu überleben, brauchte die Fabrik Großaufträge für Waren, die sich viele leisten konnten, wie zum Beispiel die seidenen Gedenktüchlein. Außerdem brauchte sie Spezialaufträge für Seidenbanner und heraldische Trachten. Die Produktion der luxuriösen Stoffe, die sie in ihrem Laden verkaufte, würde niemals ausreichen, um die Fabrik auszulasten, doch daran hing ihr Herz. Die Freude, die zeitlosen antiken Entwürfe reproduziert zu sehen, mit wunderschönen Stoffen umzugehen, die Arbeit ihres Vaters wieder lebendig werden zu lassen, bedeutete ihr mehr, als sie mit Worten auszudrücken vermochte. Es war ihre Freude und ihr Privileg, dass sie wegen ihres familiären Hintergrunds und ihrer Heirat mit Robert in der Lage war, eine Brücke zu bauen, um dieses Schöne von der Vergangenheit in die Gegenwart zu tragen und zu
Weitere Kostenlose Bücher