Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
wartest hier auf mich, Rose«, wies Amber ihre Nichte zärtlich an.
Das Haus roch nach Leere, nach Räumen, die von der Liebe nicht berührt wurden. Als sie am Salon vorbeiging, konnte sie durch die offene Tür Zigarettenrauch riechen. Soweit sie wusste, rauchte Lydia nicht, wohl aber Cassandra.
Am Fuß der Treppe zögerte Amber und rief dann: »Lydia, ich bin’s, Amber.«
Stille, und dann das gedämpfte Geräusch einer Tür, die geschlossen wurde, als wollte der, der sie geschlossen hatte, nicht, dass man es hörte.
Amber stieg die Treppe hinauf. Das Kinderzimmer lag im obersten Stock, und sie wandte sich instinktiv dorthin. Die Tür war offen, doch die Fenster waren zu und die Vorhänge vorgezogen.
Die beiden kleinen Mädchen lagen auf ihren Betten, fast wie aufgebahrt, erkannte Amber in plötzlich aufwallender schockierter Furcht, das Bettzeug wie Leichentücher über sie drapiert. Sie rührten sich nicht. Amber empfand ein wenig Erleichterung, als sie sah, dass sich ihre Brustkörbe hoben und senkten.
Auf dem Nachttisch standen zwei Gläser und daneben eine Glasflasche.
»Sie hätten nicht herkommen sollen.«
Amber drehte sich schwerfällig um, stolperte halb unter dem Gewicht ihres Bauchs.
Lydia stand in der Tür. Sie kam herein und schloss die Tür, drehte den Schlüssel und zog ihn ab.
»Lydia, was haben Sie den Mädchen gegeben?«, fragte Amber ängstlich. »Ich weiß, dass es ihnen nicht gut ging und Sie nach Jay geschickt haben.«
»Er soll sehen, dass ich weiß, dass er sie mir wegnehmen will. Deswegen habe ich nach ihm geschickt. Aber jetzt kann er sie mir nicht mehr wegnehmen. Niemand kann sie mir jetzt noch wegnehmen.«
Amber sah sie krank vor Angst an. »Lydia, Jay würde Ihnen niemals Ihre Kinder wegnehmen.«
»O doch. Das hat Cassandra mir erzählt. Sie sagt immer, ich darf Jay nicht trauen, er will mir die Kinder wegnehmen, Ihretwegen. Deswegen.« Sie zeigte auf Ambers Bauch. »Wegen des Babys, das er Ihnen gemacht hat. Cassandra hat mir erzählt, dass Jay Sie liebt und nicht mich.«
Amber war entsetzt, und zu ihrer Angst gesellte sich Mitleid. »Nein, Lydia, das ist nicht wahr. Ich schwöre Ihnen, Jay ist nicht der Vater meines Kindes.«
Wie grausam Cassandra war und wie manipulativ. Was hatte sie bloß davon, die arme Lydia gegen Jay aufzubringen?
»Sie sind Jays Frau, Lydia, und die Mutter seiner Kinder. Daran kann nichts und niemand etwas ändern«, versicherte Amber ihr. Das stimmte schließlich.
»Jay will mir meine Kinder wegnehmen, aber das lasse ich nicht zu. Ich bin ihre Mutter, sie gehören mir.« Ihre Stimme schraubte sich in die Höhe.
»Ich weiß, dass Sie sie lieben, Lydia«, versuchte Amber, sie zu beruhigen.
»Ja, ich liebe sie. Sie merken nichts. Sie schlafen. Und dann sorge ich hiermit dafür, dass sie sicher sind.«
Die rechte Hand hatte sie seitlich am Körper gehabt, verborgen in den Falten ihres Kleids, doch jetzt hob sie sie, und Amber sah das dunkle Schimmern des Messers. Entsetzen ergriff sie.
»Es geht sehr schnell, wissen Sie«, erklärte Lydia sachlich. »Ich habe meinem Großvater zugesehen, wie er es mit dem Vieh gemacht hat. Man muss nur die Schneide über die Kehle ziehen, das ist alles. Es gibt natürlich viel Blut, aber sehen Sie, wie gut ich die Laken hochgezogen habe?«
Ambers ganzer Körper war in eiskalten Schweiß getaucht. Als könnte es das spüren, trat ihr das Baby verzweifelt gegen den Bauch, und zum ersten Mal seit der Empfängnis wurde Amber von einer heftigen beschützerischen Liebe zu ihrem Kind erfasst.
Sie musste dieses Zimmer verlassen und Hilfe holen, doch die Tür war abgeschlossen, und Lydia hatte das Messer.
»Er kommt noch lange nicht«, sagte Lydia, als hätte sie Ambers Gedanken erraten. »Ich habe Alice gesagt, er wäre zum Gutshof gegangen, aber das ist er gar nicht.« Die Freude in ihrer Miene und der Klang ihrer Stimme hatten fast etwas Kindliches.
»Das war sehr klug von Ihnen, Lydia«, sagte Amber.
»Ja. Ich bin klug. Das sagt Cassandra auch.«
»Und Sie lieben Ihre Kinder.«
»Ja.«
»Und Menschen, die wir lieben, tun wir nichts, nicht wahr?«
»Ich tue ihnen nichts. Jay will ihnen etwas tun, er will sie mir wegnehmen. Aber das lasse ich nicht zu. Ich schicke sie zu Gott, damit er sich um sie kümmert. Dort sind sie in Sicherheit. Bei Gott sind alle sicher.«
Sie sprach wie ein Kind, und genau so musste sie sie zu überzeugen suchen, fand Amber. Innerlich war ihr übel vor Entsetzen, doch das durfte sie
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