Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
neuem Leben zu erwecken. Sie würde nie leugnen, wie wichtig die in der Fabrik produzierten Waren des täglichen Bedarfs waren, und sie würde dem Verteidigungsministerium immer dankbar sein für die Aufträge zur Produktion von Fallschirmseide, doch ihr Herz würde immer an den wunderschönen Seidenstoffen hängen, die sie in dem Laden in der Walton Street verkaufte. Sie wollte es sich zur Lebensaufgabe machen, das fabrikeigene Archiv auszubauen. Das hatte sie zumindest vorgehabt. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Die Zukunftspläne, die so klar umrissen und so machbar gewirkt hatten, kamen ihr jetzt vor wie eine Fata Morgana, die außer in ihrer Phantasie gar nicht existiert hatte.
Im Osten bildeten die Hügel von Derbyshire eine purpurrote Silhouette. Die Stadt Buxton mit ihrem berühmten Heilbad war inzwischen sicher schneefrei, wie die kurvenreiche Straße, die zu dem berüchtigten Wirtshaus Cat & Fiddle führte, dem höchstgelegenen Pub in ganz England. An einem Tag wie diesem, wenn die Luft klar war, konnte man von Alderley Edge über die Ebene von Cheshire schauen, deren üppige Weiden sich weit nach Westen erstreckten.
In einem Monat stünden die Buchen in vollem Laub, und das Kind, das sie unter dem Herzen trug, würde zur Welt kommen. Seine Geburt würde das Ende ihrer Ehe bedeuten. Sie hatte zu ihrer Großmutter noch nichts über ihre Zukunft gesagt. Dafür war noch Zeit genug.
Amber hatte das Tor erreicht, das in den Garten von Jays Haus führte, und wunderte sich, dass sie keine vertrauten Kinderstimmen hörte. Besorgt runzelte sie die Stirn, als sie sah, dass Rose allein auf dem Rasen saß. Gregs Tochter schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, stand auf und kam auf sie zugelaufen.
»Wie geht es meiner hübschen Rose denn heute?«, fragte Amber sie zärtlich. Ihr Bauch war inzwischen so dick, dass sie sich nicht mehr bücken konnte, und so tätschelte sie Rose nur den Kopf und sah sich nach dem Kindermädchen und Jays beiden Töchtern um.
Aus irgendeinem Grund war ihr die leere Stille des Gartens plötzlich unheimlich. Wieso konnte sie Jays Töchter weder sehen noch hören, und warum hatte man Rose im Garten allein gelassen? Jay hatte auf Anraten von Dr. Brookes die Regel aufgestellt, dass die Kinder niemals mit ihrer Mutter allein gelassen werden durften, doch das neue Kindermädchen, das sehr kurzfristig eingestellt worden war, wusste das vielleicht noch nicht.
Sie ging schneller, zu schnell für ihren gegenwärtigen Zustand, wie sie merkte, als sie quälendes Seitenstechen bekam. Die Küchentür stand offen, und die Köchin war dabei, Teig auszurollen, und schaute sie verärgert an, wie Köchinnen es an sich haben, wenn sie nicht gestört werden wollen.
»Die Herrin hat Alice geschickt, Mr Jay zu holen«, antwortete sie auf Ambers Frage. »Den Mädchen ging’s nicht gut … zu viel Herumgerenne und Albernheiten, wenn Sie mich fragen. Kein Wunder, dass ihnen nicht gut war.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Amber.
»Oben. Die Herrin ist runtergekommen und hat sie mit hochgenommen, nachdem Lady de Vries gegangen war, dann ist sie nach’ner Weile wieder runtergekommen und hat gesagt, Alice soll dringend Mr Jay holen, denn sie glaubt, es ginge ihnen nicht gut. Also, als sie vorhin durch den Garten gerannt sind und mich um Kekse angebettelt haben, ist es ihnen noch ganz gut gegangen!«
»Keks«, sagte Rose erwartungsvoll und lehnte sich an Ambers Beine.
»Später, Schatz«, sagte Amber.
Es gab keinen logischen Grund für das kalte, besorgte Prickeln, das ihr den Rücken hinablief, überhaupt keinen Grund. Sie schaute zu der mit grünem Fries bespannten Tür, welche die Küche vom übrigen Haus trennte.
»Ich habe für Mrs Fulshawe eine Nachricht von meiner Großmutter. Ich gehe besser rauf und überbringe sie ihr. Würden Sie bitte für mich ein Auge auf Rose haben? Ich verspreche, es dauert nicht lange.«
»Es ist nicht meine Aufgabe, mich um die Kinder zu kümmern«, sagte die Köchin spitz.
»Natürlich nicht«, stimmte Amber ihr beruhigend zu. »Aber ich fürchte, es fällt mir im Augenblick recht schwer, Rose auf den Arm zu nehmen, und da sie noch nicht gut Treppen steigen kann, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Amber öffnete ihre Handtasche und sah das Schimmern in den Augen der anderen Frau.
»Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar«, sagte sie und drückte ihr zwei Münzen in die Hand.
»Na, beim Backen wird sie mich wohl nicht stören. Sie ist ein braves kleines Ding.«
»Du
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