Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
um ihren Dienst zu verrichten – in einer eiskalten Kirche Kleider durchsehen, die für die Flüchtlinge gespendet worden waren -, klingelte das Telefon.
Amber vermutete, es sei Robert, und ging dran. Er war es zwar, doch er rief nicht an, um ihr zu sagen, dass er Luc in der Schule abgeliefert hatte, sondern dass es unterwegs aufgrund von Truppenbewegungen zu Verzögerungen gekommen sei und sie nicht vor dem nächsten Tag mit ihm rechnen solle.
»Sobald ich Luc im Internat abgesetzt habe, suche ich mir ein Hotel oder einen Pub und fahre dann morgen zurück.«
»Umarme Luc von mir«, sagte Amber, »und fahr vorsichtig.«
»Du kennst mich doch«, lachte Robert. »Ich gehe nie ein Risiko ein.«
Es war ein Rätsel, da waren Amber und die anderen Mitglieder des Women’s Voluntary Service sich einig, dass es in einem Gebäude, das eine Woche lang vom herrlichsten Sonnenschein aufgeheizt worden war, so kalt sein konnte.
»Wenn ich nach Hause komme, lasse ich mir als Erstes ein warmes Bad ein«, erklärte eine Frau.
»Irgendwie haben alte Kleider etwas Trauriges, findet ihr nicht? Die armen, unerwünschten Sachen«, seufzte Isabelle Markely.
»Aber sie sind doch erwünscht«, widersprach Amber energisch. Insgeheim dachte sie, Isabelle neige dazu, ein wenig theatralisch zu werden, sobald sich die Gelegenheit bot. »Deswegen liegen sie doch hier, und wir sehen sie uns an.«
Als sie durch die finsteren Straßen mit den verdunkelten Fenstern nach Hause ging, dachte Amber an ihren Sohn und hoffte, dass er sich auf dem neuen Schulgelände zu Hause fühlen würde.Vermutlich ja. In vielerlei Hinsicht war er ein pragmatischer kleiner Junge. Wenn sie daran dachte, wie er gezeugt worden war, empfand sie es als besonders süß, ihm dabei zuzusehen, wie er sich beständig an Robert orientierte. Emerald dagegen schien, so jung sie auch war, fest entschlossen, in ihrem Temperament nach Ambers Großmutter zu schlagen. Amber wollte keines ihrer Kinder vorziehen, aber es gab keinen Zweifel daran, dass sie Luc weitaus pflegeleichter fand als Emerald.
Sie überquerte die Straße und bog auf den Eaton Square ab. Der Butler machte ihr die Tür auf und erklärte ihr mit ernster Miene: »Ein Gentleman möchte Sie sprechen; er wartet in der Bibliothek Seiner Gnaden, Euer Gnaden. Er hat gesagt, er wolle lieber warten, als noch einmal wiederzukommen.«
Jay! Wer sollte es sonst sein? Sie spürte, wie ihr vor Glück warm in der Brust wurde, als hätte jemand dort ein Feuer entzündet.
Es fiel ihr schwer, dem Butler mit ruhigem Lächeln zu danken und gemessenen Schrittes auf die Flügeltür zuzugehen, die in die kleine Bibliothek im Erdgeschoss führte.
Ihr Besucher, der vielleicht durch ihre Schritte auf ihre Ankunft aufmerksam geworden war, stand der Tür gegenüber an der Wand, und es handelte sich nicht um Jay. Die Enttäuschung war so groß, dass sie sich kaum auf den Fremden konzentrieren konnte.
Er war mittelgroß, hatte schütteres Haar und trug trotz des warmen Abends einen schweren, dunklen Mantel. Seine Züge hatten etwas Ausdrucksloses, sodass man ihn auch nach einem Dutzend Begegnungen nicht wiedererkennen würde. Auffällig war allein der scharfe Blick seiner dunkelbraunen Augen.
»Sind Sie die Herzogin von Lenchester?«, fragte er sie förmlich, was Amber ein wenig verblüffte. Niemand nannte sie so.
»Ja, und Sie sind …?« Es sah Amber nicht ähnlich, sich arrogant zu geben, doch irgendetwas trieb sie dazu, es dem Mann in seiner förmlichen und autoritären Art nachzutun.
»Saunders, Euer Gnaden, Inspector Saunders von der Polizei West Rutland.«
Ein Gefühl düsterer Vorahnung überschattete ihr Glück, als schöbe sich eine Wolke vor die Sonne.
»Die Polizei? Aber …«
»Ich fürchte, ich bringe schlimme Neuigkeiten, Euer Gnaden.«
»Schlimme Neuigkeiten?« Plötzlich war ihr eiskalt vor Angst.
»Es hat einen Unfall gegeben, an dem auch das Automobil Ihres Gatten beteiligt war.«
Er hielt inne, als wollte er ihr Zeit geben, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Ambers Herz klopfte, als wäre sie gerannt.
»Das ist die Verdunklung. Sie verursacht so viele Unfälle. Mein Mann sagt das auch immer. Ich hoffe, der Wagen ist nicht zu arg beschädigt. Jetzt, wo wir im Krieg sind, wird er nicht so leicht zu ersetzen sein …«
Sie sprach zu schnell, ihre Stimme war zu hoch, und sie redete Unsinn. Der Inspector wartete anscheinend ab, bis ihr die Puste ausging, als hätte er so etwas schon sehr, sehr oft erlebt.
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