Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
ja.«
Natürlich wusste sie das, und als Mitglied des Women’s Voluntary Service war es ihre Pflicht, die Mütter ebenfalls zu dieser Einsicht zu bringen.
»Manche weigern sich einfach, ihre Kinder gehen zu lassen.«
Zuerst war sie schockiert und entsetzt gewesen, als sie entdeckte, dass viele Slumkinder Läuse und Schlimmeres hatten, und dann war sie zornig geworden, dass es Familien gab, die in solchem Elend leben mussten. Der Zorn richtete sich auch gegen sie selbst, weil sie nichts davon gewusst hatte.
Wenn in Macclesfield nicht sehr viel Arbeit auf sie gewartet hätte, hätte sie versucht, Robert zu überreden, in London bleiben zu dürfen.
Und natürlich war auch Jay in Macclesfield.
Daran durfte sie nicht denken.Wusste sie denn nicht, dass sie sich glücklich preisen konnte? Andere hatten das längst erkannt, etwa ihre Großmutter und Beth.
»Du hast so ein Glück, Amber«, hatte Beth ihr bei ihrem letzten Treffen gesagt.
Und das stimmte auch. Sie hatte einen wunderbaren, freundlichen, großzügigen Ehemann, der seine zwei Kinder genauso liebte, wie sie ihn liebten.
Es würde überaus beunruhigend sein, in Macclesfield zu leben, während Robert in London blieb, denn dann würde sie Jay öfter sehen als Robert. Ihr Herz klopfte schuldbewusst.
Aber es ist doch bestimmt nicht falsch, insgeheim an Jay zu denken, in meinen privatesten Gedanken, rechtfertigte sie sich, aber natürlich wusste sie, dass es nicht recht war. Mit ihrer Sehnsucht nach Jay betrog sie Robert ebenso, als würde sie mit Jay körperlich intim werden, nicht weil Robert Einwände dagegen erhoben hätte, wenn sie sich einen Liebhaber genommen hätte – das hätte er sicher nicht -, sondern weil sie Jay so liebte.
Die Pflicht ihrem Mann und ihrer Familie gegenüber hatte sie von ihm ferngehalten, doch der Krieg führte sie jetzt zu ihm zurück. Etwas, das nicht direkt Erregung oder Freude war, sang in ihr, etwas Sehnsüchtiges, Gefährliches.
»Ich weiß, dass die Verdunkelung nötig ist, aber sie macht das Leben doch recht beschwerlich – und sie ist gefährlich«, sagte Amber zu Robert, als zwei Automobile, beide mit ausgeschalteten Scheinwerfern, in der Sloane Street beinahe zusammengestoßen wären. Ihr Taxifahrer hatte fluchend das Steuer herumgerissen, um ihnen auszuweichen.
»Allein heut Abend dreimal knapp daneben, verdammich, fast hätt’s mich erwischt,’tschuldigen Sie, Missus«, erklärte der Taxifahrer. »Wenn Sie mich fragen, bringt diese verflixte Verdunkelung noch mehr Leute um als Hitler.«
Den vielen Privatlimousinen und Taxis nach zu urteilen, die vor dem Ritz hielten, waren sie nicht die Einzigen, die an diesem Abend dort essen wollten, erkannte Amber, als sie unter Verbeugungen durch den Verdunkelungsvorhang am Eingang in die vertraute helle Wärme des berühmten Hotels geleitet wurden.
»Sollen wir erst einen Drink nehmen?«, schlug Robert vor.
Die Cocktailbar war so voll, dass es unmöglich war, einen Tisch zu finden. Amber spürte, wie ihr jemand an die Schulter tippte, drehte sich um und sah sich einer lächelnden Louise gegenüber.
Louise und ihr Ehemann hatten sich im Jahr zuvor aufgrund seines unzumutbaren Verhaltens scheiden lassen, und obwohl Louise angeblich froh war, ihn los zu sein, fand Amber, sie sehe zu dünn und angespannt aus, um wirklich so glücklich zu sein, wie sie behauptete. Ihre Affäre mit einem Freund des Aga Khans hatte nicht sehr lange gehalten, ebenso wenig wie die kurzen Beziehungen danach.
»Ist das nicht aufregend?«, rief sie.
Sie trug ein äußerst elegantes Abendkleid aus mitternachtsblauem Satin, das provozierend tief ausgeschnitten war. Um den Hals und an den Ohren trug sie Saphire, die zu ihren glitzernden blauen Augen passten.
Als sie Ambers Blick bemerkte, erklärte sie mit lässigem Zynismus: »Ein Geschenk von einem lieben Freund. Bedauerlicherweise ist er verheiratet, und noch bedauerlicher ist es, dass er zu seiner amerikanischen Gattin zurückgekehrt ist. In solchen Fällen sind Juwelen ein großer Trost.«
Während sie sprach, ließ sie den Blick durch die Bar wandern. Suchte sie jemanden, der die Stelle des amerikanischen Geliebten einnehmen konnte?, fragte Amber sich bekümmert. Die arme Louise. Das Leben hatte sich ihr gegenüber nicht sehr freundlich gezeigt, obwohl Amber mutmaßte, dass Louise das keineswegs so sah.
»Bleibst du in London?«, fragte sie Amber.
»Nein. Robert besteht darauf, dass Emerald und ich die Stadt verlassen. Was ist mit
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