Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
schönen Menschen gesehen. Für einen Mann war er beinahe zu vollkommen und bestimmt viel zu schön: Er war groß und schlank, hatte sehr dunkles, welliges Haar, strahlend grüne Augen und einen sehr blassen Teint. Sein Profil raubte der Künstlerin in ihr den Atem. Sein Anzug war von einer so unglaublichen Passform, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte, der Stoff war fließend und gleichzeitig vollkommen geschnitten, sodass sie mit gierigen Blicken jedes Detail aufsaugen wollte. Woraus bestand er? Einem Wolle-Seide-Gemisch? Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und den Stoff befingert.
»Haben Sie ein besonderes Interesse an den Medici?«
Seine Stimme war voll und weich wie Samt, wechselte den Ton und die Färbung, klang einmal warm, dann wieder kühl und schlug Amber vollkommen in ihren Bann.
»Das nicht. Mein Vater hat dieses Gemälde geliebt, auch wenn er seiner Meinung nach in Leningrad sogar noch bessere gesehen hat. Meine Eltern haben mich immer hierher mitgenommen und mir alles über die Geschichte der Seide erzählt.«
»Der Seide?«, fragte er höflich.
»Tut mir leid. Ich halte Sie auf mit meinem langweiligen Gerede.« Sie wollte sich abwenden, doch er schüttelte den Kopf und erklärte entschieden: »Keineswegs. Ich muss gestehen, dass ich so gut wie nichts über die Geschichte der Seide weiß. Sehen Sie, da drüben steht eine Bank; setzen wir uns, dann können Sie mich aufklären.«
Amber wollte höflich ablehnen, doch bevor sie noch dazu kam, saß sie schon neben ihm, beantwortete seine Fragen über ihre Familie und ihr Zuhause und vertraute sich ihm auf eine Art und Weise an, wie sie es sich bei einem Fremden nie hätte vorstellen können.
»Ihre Großmutter hat sich also geweigert, Sie auf die Kunstakademie gehen zu lassen, und Sie stattdessen nach London geschickt, um den Hofknicks zu lernen, damit Sie unter Lady Rutlands Fittichen bei Hofe vorgestellt werden und einen adeligen Ehemann finden, nur wird Ihnen das alles nicht gelingen, weil Sie nicht knicksen können?« Mit dieser Zusammenfassung hatte er ihre wirren Erklärungen bewundernswert auf den Punkt gebracht.
»Ja«, räumte Amber ein. »Louise – also, Lady Rutlands Tochter – sagt, es liegt daran … dass ich nicht … also, sie sagt, um richtig knicksen zu können, braucht man eine gute Kinderstube.«
»Ah, die gute Kinderstube. Ihre Freundin hat wohl noch nicht begriffen, dass eine gute Kinderstube harte Arbeit ist. Sie wird einem nicht automatisch mit der Adelskrone in die Wiege gelegt.«
Amber war überzeugt, er machte sich über sie lustig, auch wenn er ganz ernst aussah.
»Wollen wir uns vorstellen?«, fragte er. »Sie heißen …?«
»Amber«, sagte Amber schüchtern. »Amber Vrontsky.«
Er ergriff ihre Hand, erhob sich und verneigte sich vor ihr.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich bin Herr Aubert«, sagte er, wobei er sich eines gestelzten ausländischen Akzents bediente, der Amber unwillkürlich ein Kichern entlockte. »Ich habe die Ehre, der weltbeste Instrukteur für den österreichischen Hofknicks zu sein, wenn Sie erlauben, dass ich vorführe.«
Und bevor Amber ihn noch daran hindern konnte, ließ er ihre Hand los und sank in einen vollkommenen Knicks, ein albernes Lächeln im Gesicht, bei dem Amber schon wieder lachen musste.
»Kommen Sie, Miss Vrontsky, genug der unziemlichen Tändelei. Passen Sie schön auf und machen mir alles nach, wenn ich bitten darf.«
Die Galerie war leer, und plötzlich ertappte Amber sich dabei, dass sie aufgestanden war und mitspielte. Sie ließ sich in einen tiefen Knicks sinken und richtete sich so mühelos und vollkommen wieder auf, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Eine halbe Stunde später war Amber vor Lachen ganz außer Atem, weil ihr erbarmungsloser »Instrukteur« darauf bestanden hatte, dass sie den Knicks gut ein halbes Dutzend Mal wiederholte, und protestierte kopfschüttelnd: »Ich kann nicht mehr. Ich habe schon Seitenstechen vor Lachen.«
»Lachen? Was gibt es da zu lachen? Sie sind hier, um das Knicksen zu lernen. Da lacht man nicht.«
Als sie trotzdem lachte, gab er sich empört, und dann sagte er mit normaler Stimme: »Und jetzt sollten wir Ihren großen Sieg über den Knicks im Ritz beim Tee feiern.«
Ambers Miene verdüsterte sich. »Ach nein, das kann ich nicht.«
»Natürlich können Sie, und Sie sollen auch.«
Es war natürlich nicht recht von ihr, dass sie mit ihm mitging, aber irgendwie war es ihr unmöglich, seine Einladung
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