Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
welche die Neuankömmlinge gesehen hatten, als sie vom Bahnhof Euston aus durch Londons Straßen gefahren waren.
Ein Butler, altersgebeugt und mit einem Tröpfchen an der Nasenspitze, ließ sie in die Halle ein, die zwar elegante Proportionen besaß, aber so kalt war, dass Amber in ihrem Wintermantel fröstelte. Ihre Großmutter zog nur diskret die Pelze ein wenig enger an sich. Da Amber in den Augen ihrer Großmutter noch zu jung war, um Pelze so zu tragen, wie sie eigentlich getragen werden sollten, war nur ihr Mantelkragen mit Nerz besetzt.
Lady Rutland empfing sie in ihrem Salon im ersten Stock, wo es schwach nach alten Möbeln und Feuchtigkeit roch. Allerdings wurde die Zusammenkunft nicht von Louises Mutter beherrscht, einer großen, dünnen Frau mit kerzengeradem Rücken und einer Stimme, die ebenso kalt war wie ihr Salon, sondern von Ambers Großmutter mit ihrem glasklaren Akzent und ihrer kühlen Haltung.
Es war vereinbart worden, dass Blanche eine Woche in London bleiben würde, um dafür zu sorgen, dass für Ambers Vorstellung bei Hofe Ende April alles vorbereitet wurde. Amber kannte ihre Großmutter, und so war sie nicht sonderlich überrascht darüber, dass alles bis ins Detail geregelt war, als ihre Großmutter am Ende der Woche in den Bentley stieg, den sie mitsamt Chauffeur für die Dauer ihres Londonaufenthalts gemietet hatte: Nicht nur war eine Zofe für die beiden Mädchen engagiert worden, es waren auch Termine bei Hofschneidern und Modeschöpfern gemacht und eingehalten worden, bei denen jedes Detail von Ambers neuer Garderobe akribisch besprochen wurde. Beide Mädchen waren bei der Tanzschule Vacani angemeldet worden, um dort die richtige Haltung und den Hofknicks zu erlernen, und bei der Comtesse du Brissac, die sie in Etikette und französischer Konversation schulen und ihnen gesellschaftlichen Schliff verleihen sollte. Ihrer Großmutter war es auch gelungen, das eiskalte Haus, das sie eine Woche zuvor betreten hatten, in ein behagliches Heim zu verwandeln: Wo noch vor wenigen Tagen unappetitliches Essen serviert worden war und sich die Bettwäsche stets klamm angefühlt hatte, flackerte nun in jedem Raum ein Feuer, selbst in den Schlafzimmern der jungen Mädchen, und die Mahlzeiten kamen pünktlich auf den Tisch und waren so delikat, dass sie auch den verwöhntesten Feinschmecker zu locken vermochten. Zusätzliche Dienstboten waren eingestellt worden, die ein angemessen properes und flinkes Wesen zeigten, und ein funkelnagelneuer Badeofen war installiert worden, damit die Damen des Hauses in Zukunft gebührend heiße Bäder genießen konnten. Ein Rolls-Royce samt Chauffeur war für die Dauer der Saison angeheuert worden, und für Amber war in all jenen Läden, in denen sie womöglich Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen wünschte, ein Kundenkonto eingerichtet worden.
Als ihre Großmutter sich nun zur Abreise bereitmachte, warf sie Amber einen scharfen Blick zu und ermahnte sie: »Du wirst hoffentlich daran denken, dass du meine Enkelin bist und ich von dir erwarte, dich dementsprechend zu benehmen. Du wirst Lady Rutland stets gehorchen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Großmutter«, erwiderte Amber fügsam. Welchen Sinn hätte es gehabt, etwas anderes zu sagen?
Als Blanche sie umarmte, küsste Amber ihre Großmutter pflichtschuldig auf die Wange. Sie spürte, dass ihr Mangel an Begeisterung und Dankbarkeit die alte Dame erboste, aber sie würde auf keinen Fall so tun, als freute sie sich auf die Zukunft, die ihre Großmutter für sie geplant hatte.
Blanche gab sie frei, trat zurück und warnte ihre Enkelin ein letztes Mal: »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, Amber. Ich möchte von Lady Rutland keine Klagen über dein Benehmen hören.«
»Nein, Großmutter.«
Amber hörte noch, wie ihre Großmutter ungeduldig den Atem ausstieß, während sie dem bereitstehenden Dienstboten bedeutete, ihr den Wagenschlag aufzuhalten.
Schließlich fuhr sie davon, und Amber sah ihr nach, bis der Wagen außer Sicht war. Vermissen würde sie ihre Großmutter nicht, kein bisschen, und doch fühlte sie sich unerwartet allein. Blanche hatte sich kaum verabschiedet, da startete Louise schon den ersten Angriff auf Amber. Sie folgte ihr nach oben ins Schlafzimmer und baute sich in der Tür auf, sodass Amber der Weg nach draußen versperrt war.
»Bild dir bloß nicht ein, ich würde so tun, als wollte ich dich hierhaben oder als könnte ich dich leiden«, erklärte sie Amber garstig, »denn das tue
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