Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Wahrhaftigkeit gelehrt.
»Die Wahrheit tut manchmal weh«, hatte ihre Mutter gesagt, »aber Falschheit schlägt weitaus schmerzhaftere Wunden.«
Cecil Beaton und sein junger Assistent besprachen einige Skizzen, die der Fotograf bei der Vogue eingereicht hatte. Er zog einen kleinen Skizzenblock und einen Bleistift aus der Tasche, um einen wichtigen Punkt zu illustrieren.
Fasziniert und neidisch sah Amber zu, ohne sich bewusst zu sein, wie deutlich ihre Gefühle sich in ihrer Miene spiegelten. Wie glücklich sich Saville doch schätzen konnte, einen solchen Lehrmeister zu haben.
Von der mit Zigarettenqualm geschwängerten Luft am Tisch und der aufregenden Konversation wurde Amber ein wenig schwindelig.
Die Tische ringsum füllten sich, das Gelächter wurde lauter, statt Teetassen wurden nun Sektgläser aufgetragen.
»Robert, ich glaube, es wird allmählich Zeit, dass du deinen Schützling zu Lady Rutland zurückbringst, bevor ihr beide noch Schwierigkeiten bekommt«, sagte Cecil Beaton und riss eine Seite aus seinem Skizzenblock.
»Ja, ich muss gehen«, stimmte Amber zu. Als sie sah, wie spät es geworden war, wurde sie von eisiger Furcht gepackt. »Danke für den Tee und Ihre Freundlichkeit …« Sie erhob sich. Unter all den schön gekleideten, eleganten Menschen war sie sich der Mängel ihrer eigenen Erscheinung schmerzhaft bewusst, und der Umstand, dass sie furchtbar spät zu Lady Rutland zurückkommen würde, erfüllte sie mit Panik. Ihr Herz begann ängstlich zu pochen. Was um alles in der Welt sollte sie nur zu Lady Rutland sagen? Sie hätte nicht so lange bleiben dürfen, gestand sie sich schuldbewusst ein. Eigentlich hätte sie überhaupt nicht herkommen sollen.Trotzdem war sie froh, dass sie es getan hatte.
»Hier, Kind, das ist für Sie – zur Erinnerung.«
Ihre Befürchtungen schwanden, machten einer Mischung aus Entzücken und Ehrfurcht Platz, als sie auf die kleine Skizze blickte, die Cecil ihr geschenkt hatte. Da hatte sie die gesamte Runde – kleine, aber furchtbar treffende Karikaturen von allen, die um den Tisch saßen. Unter die Skizze hatte er geschrieben: »Miss Vrontsky trinkt Tee.«
»Oh, danke«, würgte Amber hervor. Mehr brachte sie nicht heraus. Sie konnte es kaum fassen, dass sie, die sie Cecils witzige Gesellschaftskarikaturen so oft in der Zeitung studiert hatte, nun plötzlich eine besaß, auf der sie selbst mit abgebildet war.
Der Oberkellner wurde gerufen und angewiesen, sie sicher in eine Droschke zu setzen. Die Herren erhoben sich und beugten sich förmlich über ihre Hand, und dann wurde sie vom Tisch weggeleitet.
Gerade als sie beim Haupteingang angelangt war, kam Lord Robert ihr nachgelaufen.
»Falls es von Lady Rutlands Seite irgendein Nachspiel geben sollte, verweisen Sie sie unbedingt an mich«, sagte er zu ihr.
Nach der Verzagtheit, die sie empfunden hatte, hätte seine rücksichtsvolle Aufmerksamkeit sie beinahe überwältigt. »Sie sind alle so nett«, stammelte sie bewegt.
Lord Robert sah ihr nach. Sie musste noch sehr viel lernen. Ihr war ja nicht einmal bewusst, dass sich die Gesellschaft in jene schied, die Menschen außerhalb ihrer eigenen Schicht akzeptierten und mit ihnen Umgang pflegten, und jene, die das nicht taten und nie tun würden.
Er gehörte natürlich zur ersten Gruppe; in seiner Welt waren alle willkommen, die Witz, Stil und vor allem Schönheit besaßen. In seiner Welt herrschten Eleganz, Amüsement und Geld. Allerdings hatte diese Welt auch ihre Schattenseite, denn in ihr tummelten sich auch zwielichtige Gestalten, liederliche, schamlose und verkommene Personen. Seine Welt bestand aus jenen, die Jagd auf Schönheit machten, und jenen, die sie kauften und verkauften. Man würde Amber, deren Schönheit vom Reichtum ihrer Großmutter und deren Wunsch nach einem Titel ergänzt wurde, herzlich willkommen heißen. Doch würde sie überleben, oder würde es sie zerstören? Das arme Kind, er empfand mit ihr. Schließlich konnte er nachfühlen, wie es war, eine mächtige, grausame Großmutter zu haben. Sein eigener Großvater hatte … aber nein, er durfte sich nicht erlauben, daran zu denken.
Amber wusste, dass sie diesen Tag nie vergessen würde. Neue Hoffnung, neues Glück erfüllten sie. Ach, wie sie Cecil Beatons jungen Assistenten beneidete. Was für ein Glückspilz er doch war.
In der Droschke, die sie zurück zum Cadogan Place brachte, war Amber voller Sorge und Angst, was Lady Rutland wohl sagen würde. Und doch brachte sie es nicht
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