Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
über sich, sich zu wünschen, sie wäre nicht mit Lord Robert mitgegangen.
Das Glück, das sie an diesem Nachmittag empfunden hatte, war Lady Rutlands Zorn zehnfach wert. Nie würde sie vergessen, wie sehr sie die Gesellschaft genossen hatte und wie freundlich alle zu ihr gewesen waren, vor allem Lord Robert. Ein rosiges Glühen wärmte Ambers Gesicht, und ihr Herz begann ein wenig schneller zu schlagen. Lord Robert war so amüsant und so attraktiv.Vermutlich würde sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen, aber wenn doch …
6
Es war nach sechs Uhr, als Amber zum Cadogan Place zurückkehrte. Die Lunchgesellschaft, zu der Lady Rutland und Louise gegangen waren, war längst vorbei.
Ein mitfühlend dreinschauendes Dienstmädchen informierte Amber, dass sie sofort zu Lady Rutland kommen solle, doch bevor Amber Folge leisten konnte, trat Louise, ohne anzuklopfen, mit äußerst selbstgefälligem Gesicht in ihr Zimmer.
»Mummy ist sehr wütend auf dich«, erklärte sie Amber schadenfroh. »Sie wird deiner Großmuter schreiben und ihr erklären, dass sie dich aufgrund deines Benehmens wohl nicht präsentieren kann.«
Ambers erster schuldbewusster Gedanke war, dass jemand sie im Ritz gesehen und Lady Rutland informiert hatte. Doch ihre Ängste erwiesen sich als grundlos, denn Louise fuhr fort: »Mummy sagt, sie setzt sich nicht der Schande aus, eine Debütantin zu präsentieren, die den Hofknicks nicht beherrscht.«
Amber atmete vor Erleichterung zitternd aus. So unschuldig sie auch war, wusste sie doch, dass es gesellschaftlich als sehr viel schlimmeres Vergehen galt, die Einladung eines Fremden anzunehmen, als nicht knicksen zu können. Nicht dass ihr das etwas ausmachte. Sie hätte diesen herrlichen Nachmittag um nichts in der Welt versäumen mögen.
Lady Rutland saß an ihrem kleinen Reiseschreibtisch – ein Erbstück, wie sie Amber und Blanche erklärt hatte, von einem Vorfahren, der in Waterloo gekämpft hatte.
Amber wurde immer noch rot, wenn sie daran dachte, wie ihre Großmutter unterkühlt »Wirklich? Mir sieht das eher viktorianisch denn georgianisch aus« geantwortet hatte.
Obwohl der Diener Ambers Ankunft angekündigt hatte, las Lady Rutland weiter ihren Brief, der auf dem Tisch vor ihr lag, so als wäre Amber gar nicht da. Gut fünf Minuten ließ sie sich Zeit, bis sie schließlich aufblickte und kalt sagte: »Eines, was die vornehme Gesellschaft von denen scheidet, die auf der gesellschaftlichen Leiter weiter unten stehen, ist ein Gefühl für bestimmte Werte, Amber. In der vornehmen Gesellschaft erzählt man keine Märchen. So etwas tut man einfach nicht. Ich habe hier einen Brief von deiner Großmutter. Darin bringt sie ihre Sorge darüber zum Ausdruck, dass, wie sie es formuliert, ›meine Enkelin nicht an so vielen gesellschaftlichen Ereignissen teilnimmt, wie ich erwartet hätte‹.«
Amber war verärgert. Jay musste etwas zu ihrer Großmutter gesagt haben. Bevor sie Denham Place verlassen hatte, hatte sie sowohl Greg als auch Jay angefleht, ihr regelmäßig zu schreiben. Greg war ein unzuverlässiger Briefeschreiber, seine Briefe waren geschraubt und verrieten seinen Wunsch, sein Leben zu genießen, statt darüber zu schreiben, doch Jays Briefe waren informativ und interessant, als würde er sich mit ihr unterhalten. Mit der Zeit hatte Amber ihm immer offener über ihr Leben in London geschrieben. Obwohl Jay ihr sehr ernst geantwortet hatte, ihre Großmutter bezahle Lady Rutland dafür, dass sie Amber in die Gesellschaft einführe, ihre Gastgeberin nehme also Geld für etwas, was sie gar nicht leiste, war es Amber nicht in den Sinn gekommen, Jay könnte etwas zu ihrer Großmutter gesagt haben.
Jetzt begriff Amber, warum ihre Großmutter sie in ihrem letzten Brief um eine Liste sämtlicher gesellschaftlicher Ereignisse gebeten hatte, die sie besucht hatte.
»Du wirst feststellen, dass die Gesellschaft Petzen nicht mag, Amber. Ich hatte gehofft, deiner Großmutter die unerfreuliche Nachricht zu ersparen, dass ihre Enkelin sich zum Gespött gemacht hat, weil sie nicht einmal einen Hofknicks hinbekommt, und dass mehrere Mütter der feinen Gesellschaft sich geweigert haben, sie zu ihren Gesellschaften einzuladen. Jetzt jedoch habe ich dank deiner Dummheit keine andere Wahl, als deiner Großmutter die Wahrheit zu berichten.«
»Ich weiß, dass Louise hofft, dass meine Großmutter es sich anders überlegt und mich nach Hause beordert«, erklärte Amber Lady Rutland mutig, »aber mir wäre das
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