Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Cassandra in den Tod gehetzt worden war. Cassandra mochte ja glauben, ihre »Liebe« werde sie jeder Schuld oder Verantwortung für ihre Taten entheben, doch Jay war anderer Ansicht.
Natürlich konnte er nichts unternehmen – Cassandra hatte Caroline Fitton Legh schließlich nicht eigenhändig umgebracht -, doch das Verhalten seiner Cousine schockierte ihn nicht nur zutiefst, es erfüllte ihn auch mit dem größten Widerwillen.
14
Paris. Amber konnte kaum glauben, dass sie tatsächlich in Paris war. Sie waren im Hotel George V. abgestiegen, das zu Ehren von König George erbaut worden und erst vor zwei Jahren eröffnet worden war, bevor sie ihre Reise nach Südfrankreich im Le Train Bleu , dem Erster-Klasse-Nachtzug von Paris nach Marseille und an die Côte d’Azur, fortsetzen würden.
Da sie allein reisten, ohne männliche Begleitung, hatte Lady Levington es vorgezogen, im George V. eine Suite zu nehmen statt mehrerer Einzelzimmer.
Obwohl sie inzwischen mit der Opulenz des Ritz und des Savoy vertraut war, schüchterte Amber die Pracht des George V. doch ein. Mit ihrem Skizzenblock auf dem Schoß saß sie am Schlafzimmerfenster. Beth und Lady Levington ruhten sich von den Anstrengungen der Reise aus, doch Amber war viel zu aufgeregt, um zu schlafen.
Das Erste, was sie ausgepackt hatte, war das Notizbuch ihres Vaters gewesen, dessen Seiten ihr inzwischen so vertraut waren. Er hätte Paris geliebt. Beide Eltern hätten Paris geliebt. Welche Bilder hätten sie am liebsten festgehalten? Den Eiffelturm, die Frauen in ihren Sommerkleidern? Amber sehnte sich danach, hinauszugehen und die Stadt zu erkunden. War es egoistisch, dass sie dies am liebsten allein getan hätte, in ihrem eigenen Tempo, um stehen bleiben und schauen und alles in sich aufnehmen zu können?
Cecil hatte ihr eine kurze Nachricht geschickt, in der er sie anwies, »hinter das Augenfällige zu schauen und das Augenfällige dann damit zu überlagern – dann haben Sie einen zarten Hinweis auf das, was Paris zum Schmaus für alle Sinne macht«.
Amber war sich nicht ganz sicher, ob sie verstanden hatte, was Cecil meinte. Als sie das gesagt hatte, hatte Robert gelacht und gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, manchmal wüsste Cecil selbst nicht so genau, was er meinte.
Was würde ihr Vater, dessen Zeichnungen von klassischen griechischen und ägyptischen Motiven so meisterhaft detailliert waren, festhalten wollen, wenn er an ihrem Platz säße? War es dumm von ihr, die Entwürfe und Skizzen ihres Vaters zu überarbeiten und in neue Stoffmuster einzubinden?
Sollte sie je ihr eigenes Geschäft als Innenausstatterin haben, würde sie ihr Schaufenster mit einem einzelnen Möbelstück dekorieren, einem Stuhl oder einem kleinen Tisch – nicht aus poliertem Holz, sondern farblich passend lackiert zu dem Stoff, den sie darüberdrapieren würde. Der Stoff würde im Mittelpunkt stehen, alles andere wäre nur Hintergrund. Die Menschen würden stehen bleiben und schauen, unfähig, sich loszureißen, verzaubert von der Magie des Stoffes.
Amber lachte in sich hinein. Sie war in Paris, mit allem, was Paris zu bieten hatte. Sie sollte ihre Zeit nicht mit Tagträumen vergeuden. Oh, wie gerne wäre sie hinausgegangen. Sie hatte doch ihren Stadtführer und … Doch Lady Levington hatte gesagt, sie und Beth dürften das Hotel nicht ohne sie verlassen, ermahnte Amber sich streng. Sie wollte nicht schon am ersten Tag in Ungnade nach Hause geschickt werden. Ein Gähnen überraschte sie, und dann noch eines. Sie war nicht müde gewesen, aber vielleicht war es gar keine so schlechte Idee, ein wenig auszuruhen. Lady Levington hatte sie gewarnt, dass ihre Zeit in Paris knapp war und dass sie vieles zu erledigen hatten. »Ich hoffe sehr, Alistair besucht uns in Juan-les-Pins«, flüsterte Beth Amber aufgeregt zu, als sie hinter Lady Levington darauf warteten, dass der Portier ihnen ein Taxi herbeiwinkte.
Alistair hatte Lady Levington geschrieben, bevor sie aus London abgereist waren, um ihr mitzuteilen, er werde auf dem Weg nach Florenz durch Juan-les-Pins kommen, und sie um Erlaubnis gebeten, sie zu besuchen.
»Nicht dass ich nicht vollkommen glücklich mit deiner Gesellschaft bin, liebste Amber«, versicherte Beth ihrer Freundin, als Lady Levington sie ins Taxi scheuchte, während der Portier dem Fahrer die Anweisung gab, sie in die Rue Cambon 31 zu bringen, »das bin ich natürlich.«
Doch sie war nicht Alistair, und inzwischen war es offensichtlich, dass
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