Der Glanz der Seide: Roman (German Edition)
Mädchen der Oberschicht erwartete. Doch einerseits zu wissen, wie sie sich zu verhalten hatte, um in den Kreis zu passen, in dem sie sich jetzt bewegte, und sich andererseits dabei wohl zu fühlen waren zwei ganz verschiedene Paar Schuhe.
Die strenge Formalität des Lebensstils der Oberschicht mit ihrem Raffinement und ihren Regeln kam ihr nach dem Leben, das sie zu Hause bei ihren Eltern kennengelernt hatte, falsch und unnatürlich vor. Sie hatte das Gefühl, eine Rolle zu spielen, um es anderen Menschen recht zu machen, statt schlicht sie selbst zu sein, und die Falschheit daran war ihr zuwider. Sie rieb sich daran auf und hatte das Gefühl, eine Außenseiterin zu sein.
Trost suchend schlug sie ihren Skizzenblock auf und floh in ihre private Welt.
Wohin Amber auch ging, hatte sie ihren Skizzenblock dabei und versuchte die Bilder festzuhalten, die ihre Phantasie beflügelten: blaue Seide, mit Türkis durchschossen, die Farben des Mittelmeers, Sträuße aus Bougainvilleen und Geranien vor Terrakotta und Weiß, und dann als Kontrast dazu die alten Gebäude der mittelalterlichen Städte St.-Paul-de-Vence und Mougins, Edelsteinfarben vor abgewetztem Stein, weiche seidene Schönheit auf nackten Felsen, die Muster und Farben der Natur, übersetzt in Stoffe, die die Essenz all dessen einfangen würden, was Südfrankreich ausmachte.
Sie und Beth schmeichelten Henry so lange, bis er eines Morgens früh aufstand und sie nach Grasse fuhr, wo sie den berühmten Blumenmarkt besuchten und dann Parfüm kauften. In der kleinen Parfümerie kicherten sie befangen über die Leidenschaft des Inhabers, als er mit Wollust bekannte, es sei unmöglich, seinen Wunsch zu erfüllen, nämlich den flüchtigen Duft der Haut einer Frau einzufangen.
Ambers Haut bräunte zu einem warmen Goldton, und die sommersprossige Beth seufzte voller Neid. Die Komplimente der jungen Franzosen wurden immer feuriger.
Eines Abends nahmen Lord und Lady Levington sie mit nach Monte Carlo ins Spielkasino, wo Amber mit traditionellem Anfängerglück beim Baccara chemin de fer fünfzig Pfund gewann.
Es gab Partys und Picknicks auf Jachten, Soupers, Einladungen zum Abendessen und improvisierte Tanzabende auf den Terrassen eleganter Villen. Die Tage waren so angefüllt, dass sie in ihren Briefen an Jay und ihre Großmutter kaum von allem berichten konnte. Während ihre Briefe an ihre Großmutter gestelzte, gehorsame Berichte darüber waren, was ihre Großmutter wahrscheinlich hören wollte: die Namen – und Titel – der Menschen, denen sie vorgestellt worden war, konnte Amber in ihren Briefen an Jay von der mitreißenden Schönheit ihrer neuen Umgebung schwärmen. Sie füllte eine Seite nach der anderen mit begeisterten ausführlichen Beschreibungen der Orte, die sie besucht hatten, und erwähnte die Menschen, die sie kennenlernte, kaum. Sie waren zwar ganz nett, doch kein Vergleich mit der Wirkung, die Südfrankreich selbst auf sie ausübte.
Sie erwähnte Caroline nicht.Was Jay ihr erzählt hatte, war zu schmerzlich und zu schockierend, um daran zu denken, und sie hatte es irgendwo tief in ihrem Innern vergraben.
Zu ihrer Bestürzung war sie fast froh darüber, dass die große Entfernung zwischen ihnen dazu führte, dass sie bislang nur einen sehr kurzen Brief von Greg bekommen hatte, der ihr von Macclesfield nachgeschickt worden war. Darin erwähnte er Caroline mit keinem Wort, sondern teilte ihr nur mit, dass er sicher angekommen sei. Es fiel Amber schwer, Greg von den Veränderungen in ihrem Leben zu erzählen. Fast hatte sie das Gefühl, einem Fremden zu schreiben.
Zweimal lud Lady Levington Jean-Philippe ein, mit der Familie zu Abend zu essen, und bei beiden Gelegenheiten empfand Amber dieselbe Abneigung wie bei ihrem ersten Zusammentreffen. Er hatte eine gewisse Sorglosigkeit an sich, und sooft sein Blick auf ihr ruhte, funkelten seine dunklen Augen arrogant. Er war geradezu lächerlich mit dieser Mähne dicker Locken und dieser verwegenen Aura der Gefahr, ein Narr, dessen einzige Kunst wahrscheinlich in den kühnen Strichen bestand, mit denen er sich selbst gemalt hatte. Er war eine Beleidigung, ein Affront gegen wahre Kunst, ein räuberischer Poseur, der sich in Lady Levingtons Gunst schmeichelte und flirtete. Amber würde nicht auf ihn hereinfallen.
»Aber wie kannst du ihn nicht mögen«, protestierte Beth eines Abends, als er mit ihnen gegessen hatte, »wo er doch so gut aussieht und Künstler ist?«
»Ich mag ihn eben nicht.« Mehr konnte
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