Der Glanz des Mondes
dem Moos hervor wie eine fleischige Skulptur, und wenn sich zuweilen in einer der Kiefernkronen ein Vogel niederließ und eine trillernde Melodie schmetterte, geriet ihr Puls ins Stolpern.
Schon eine Domäne zu führen hatte ihren rastlosen, hungrigen Verstand nicht ausreichend gefordert; nun aber gab es so wenig zu tun, dass es Kaede schien, als musste sie vor Langeweile sterben. Sie versuchte die rhythmischen Klänge der Arbeiten im Haushalt hinter den Wänden zu hören, doch nur wenige Geräusche drangen bis in ihr abgeschiedenes Zimmer vor. Einmal hörte sie die Kadenz einer Flöte und dachte, es sei vielleicht Makoto. Sie fürchtete sich davor, ihn wiederzusehen, denn bei dem Gedanken, dass er ungehindert kam und ging, in Takeos Nähe war und an seiner Seite kämpfen durfte, wurde sie von Eifersucht gepackt. Und doch sehnte sie sich danach, ihn wiederzutreffen, sehnte sich nach Neuigkeiten, gleich welcher Art. Aber es gab keine Möglichkeit herauszufinden, ob es tatsächlich der junge Mönch gewesen war.
Abgesehen von der Langeweile litt sie am meisten darunter, nicht informiert zu sein. Schlachten mochten ausgetragen und verloren werden, Kriegsherren rissen möglicherweise die Macht an sich oder wurden gestürzt - all das hielt man von ihr fern. Kaedes einziger Trost war, dass Fujiwara sie mit Sicherheit von Takeos Ende unterrichten würde, um sie auf diese Weise zu verhöhnen, um sich an seinem Tod und ihrem Kummer zu weiden.
Sie wusste, dass Fujiwara nach wie vor seine Stücke aufführen ließ, und fragte sich, ob er inzwischen ihre eigene Geschichte verwendet hatte, was damals seine Überlegung gewesen war. Mamoru begleitete ihn häufig bei seinen Besuchen und wurde ermahnt, Kaedes Mimik zu studieren und sie zu kopieren. Man gestattete ihr nicht, sich die Theaterstücke anzusehen, doch sie hörte Wortfetzen und Teile der Gesänge, die Klänge der Musiker, das Schlagen der Trommel. Ab und an schnappte sie einen Satz auf, der ihr bekannt vorkam, und das Stück, aus dem es stammte, nahm in ihrer Vorstellung Gestalt an, rührte sie urplötzlich durch die Schönheit der Worte und den dargestellten Schmerz zu Tränen.
Ihr eigenes Leben erschien ihr ebenso schmerzvoll, ebenso ergreifend. Gezwungen, die kleinsten Details ihrer gegenwärtigen Existenz zu betrachten, begann sie nach Wegen zu suchen, die eigenen Gefühle festzuhalten. Erst nach und nach und vereinzelt kamen die Worte zu ihr. Manchmal brauchte sie den ganzen Tag, um die richtigen zu wählen. Sie wusste wenig über die formale Dichtung, kannte nur das, was sie in den Büchern ihres Vaters gelesen hatte, aber sie sammelte Worte wie goldene Perlen und reihte sie so aneinander, dass sie Gefallen daran fand. Und sie behielt sie für sich, verbarg sie in ihrem Herzen.
Vor allem die Stille, in der diese Gedichte sich wie von selbst formten, lernte sie zu schätzen. Sie waren wie die Säulen in den Heiligen Höhlen von Shirakawa, die Tropfen für Tropfen aus dem kalkhaltigen Wasser entstanden. Sie ärgerte sich über Riekos Geschwätz - eine Mischung aus Boshaftigkeiten und Eigenlob, das sich in Allgemeinplätzen erging - und über Fujiwaras Besuche, seine gekünstelte Art, die im krassen Gegensatz zu jener schlichten Wahrhaftigkeit zu stehen schien, nach der sie sich so sehnte. Außer Fujiwara war Ishida der einzige Mann, den sie zu Gesicht bekam. Der Arzt erschien alle paar Tage und sie genoss seine Besuche, obwohl sie kaum miteinander sprachen. Mit dem Beginn ihrer Suche nach Worten setzte sie auch die Beruhigungstees ab; sie wollte ihre Gefühle spüren, ganz gleich, wie quälend sie waren.
An das Zimmer, das zum Garten hinausging, grenzte ein kleiner Hausschrein mit Statuen des Erleuchteten und der allbarmherzigen Kannon. Nicht einmal Rieko wagte es, Kaede vom Gebet abzuhalten, und sie kniete dort viele Stunden lang, bis sie einen Zustand erreichte, in dem Gebet und Dichtung eins wurden und die gewöhnliche Welt ihr von Heiligkeit und Bedeutung erfüllt zu sein schien. Oft grübelte sie über die Gedanken, die sie nach der Schlacht von Asagawa und Takeos Verfolgung der Stammesangehörigen aufgewühlt hatten, und fragte sich, ob dieses Gefühl von Heiligkeit, das sie gestreift hatte, vielleicht eine Antwort darauf war, wie man herrschen konnte, ohne auf Gewalt zurückzugreifen. Doch dann schalt sie sich, weil nicht abzusehen war, dass sie überhaupt jemals wieder herrschen würde, und weil sie zugeben musste, dass sie sich, sollte sie irgendwann
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