Der Glanz des Mondes
Ishida zu schicken.
Als er kam, erschrak sie über seine Erscheinung. Ein paar Tage zuvor war er noch fröhlich gewesen; nun war sein Gesicht eingefallen und verhärmt, seine Augen wie schrumpelige Kohlen, seine Haut aschfahl. Seine Ausstrahlung war ruhig wie immer und er sprach mit großer Freundlichkeit zu ihr, aber es war offensichtlich, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste.
Und Rieko wusste davon. Kaede konnte es an ihren gespitzten Lippen und dem stechenden Blick ablesen. Den Arzt nicht fragen zu können war wie Folter; nicht zu wissen, was um sie herum im Haus und draußen in der Welt geschah, würde sie mit Sicherheit noch wahnsinnig machen. Ishida verabreichte ihr einen Tee aus Weidenrinde und wünschte ihr mit ungewohnter Intensität eine gute Nacht. Sie war sich sicher, ihn nie wieder zu sehen. Trotz des Beruhigungsmittels schlief sie in dieser Nacht nicht gut.
Am Morgen befragte sie Rieko erneut zu Yumis Verschwinden und Ishidas Kummer. Als sie, abgesehen von versteckten Vorwürfen, keine Antwort erhielt, beschloss sie, sich an Fujiwara selbst zu wenden. Es war fast eine Woche her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte; während ihrer Krankheit hatte er sich von ihr fern gehalten. Sie konnte die unerklärlich bedrohliche Atmosphäre einfach nicht länger ertragen.
»Würdest du Lord Fujiwara bitte mitteilen, dass ich ihn zu sehen wünsche?«, bat sie Rieko, als sie mit dem Ankleiden fertig war.
Rieko ging selbst und kehrte mit der Nachricht zurück: »Seine Lordschaft ist erfreut, dass seine Frau sich nach seiner Gesellschaft sehnt. Er hat für diesen Abend eine ganz besondere Zerstreuung arrangiert. Dort wird er Sie treffen.«
»Ich möchte gern mit ihm allein sprechen«, sagte Kaede.
Rieko zuckte mit den Achseln. »Zurzeit haben wir keine besonderen Gäste. Nur Mamoru wird bei ihm sein. Sie sollten besser baden und ich denke, wir müssen Ihr Haar waschen, damit es in der Sonne trocknen kann.«
Als ihre Haare endlich trocken waren, bestand Rieko darauf, sie vor dem Frisieren kräftig einzuölen. Kaede legte die gesteppten Wintergewänder an, froh über die Wärme, denn mit den nassen Haaren hatte sie stark gefroren - die Sonne schien zwar, aber die Luft war dennoch kühl. Zu Mittag aß sie ein wenig Suppe, doch ihr Magen und ihre Kehle schienen wie zugeschnürt zu sein.
»Sie sind sehr weiß«, sagte Rieko. »Lord Fujiwara schätzt das an Frauen.« Der Unterton ihrer Worte ließ Kaede zittern. Etwas Schreckliches würde geschehen, geschah bereits; alle außer ihr wussten davon, und sie würden es ihr enthüllen, wann immer es ihnen gefiel. Ihr Puls beschleunigte sich und sie spürte die schnellen Schläge in Hals und Bauch. Von draußen drang ein dumpfes, hämmerndes Geräusch zu ihr herein, wie ein Echo ihres Herzschlags.
Sie ging und kniete vor dem Schrein, aber selbst das brachte ihr keine Ruhe. Als es Abend wurde, kam Mamoru und führte sie zu jenem Pavillon, von dem aus sie und Fujiwara zu Beginn des Jahres den ersten Schnee hatten fallen sehen. Obwohl es noch nicht dunkelte, waren in den kahlen Zweigen der Bäume bereits Laternen entzündet, und auf der Veranda brannten Kohlenbecken. Kaede warf einen flüchtigen Blick auf den jungen Mann, versuchte irgendetwas an seinem Verhalten abzulesen. Er war ebenso weiß wie sie und sie vermeinte Bedauern in seinen Augen zu entdecken. Ihre Furcht wuchs.
Es war so lange her, dass sie eine Landschaft gesehen hatte, dass die Szenerie vor ihren Augen, die Gärten und Berge im Hintergrund, ihr unbeschreiblich schön erschien. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die schneebedeckten Gipfel in Rosa und Gold und der Himmel hatte einen durchscheinenden Ton aus Blau und Silber. Sie betrachtete ihn, nahm ihn in sich auf, als wäre es das Letzte, was sie auf Erden sehen würde.
Mamoru legte ihr ein Bärenfell um und murmelte: »Lord Fujiwara wird gleich bei Ihnen sein.«
Direkt vor der Veranda gab es ein Areal mit kleinen weißen Steinen, die zu einem verschlungenen Muster geharkt worden waren. In der Mitte hatte man vor kurzem zwei Pfähle aufgestellt. Kaede betrachtete sie irritiert; sie unterbrachen das Steinmuster auf eine rüde, nahezu bedrohliche Art und Weise.
Schritte waren zu hören, das Rascheln von Gewändern.
»Seine Lordschaft kommt«, sagte Rieko hinter ihr und beide verneigten sich bis zum Boden.
Fujiwaras unverwechselbares Parfüm zog herüber, als er neben ihr Platz nahm. Er schwieg lange, und als er ihr endlich gestattete sich
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