Der Glanz des Mondes
höher und erreichten schließlich die Mauerkrone. Eine letzte Herbstgrille zirpte und verstummte plötzlich. Kenji ahmte ihr Zirpen nach. Ich konnte die Wachtposten am anderen Ende des Außenhofs reden hören. Neben ihnen brannten eine Lampe und ein Kohlenbecken. Hinter ihnen lag die Residenz, in der die Otorilords, ihre Gefolgsleute und Familien wohl noch schliefen.
Ich hörte nur zwei Stimmen, was mich erstaunte. Ich hatte mit mehreren gerechnet, aber aus ihrer Unterhaltung ging hervor, dass alle zur Verfügung stehenden Männer an der Brücke und den Fluss entlang postiert worden waren und dort Arais Angriff erwarteten.
»Hoffentlich bringt er es bald hinter sich«, brummte der eine. »Es ist diese Warterei, die mich verrückt macht.«
»Er wird wissen, wie knapp die Vorräte in der Stadt sind«, erwiderte der andere. »Wahrscheinlich glaubt er, er kann uns aushungern.«
»Ich sehe ihn lieber draußen als hier drinnen.«
»Fragt sich, wie lange noch. Wenn die Stadt in Arais Hände fällt, wird es ein Blutbad geben. Sogar Takeo flüchtete lieber in einen Taifun, als Arai zu begegnen!«
Ich tastete neben mir nach Taku, bekam ihn zu fassen und zog seinen Kopf dicht an mich heran. »Klettere hinein«, hauchte ich ihm ins Ohr. »Lenk sie ab, während wir von hinten angreifen.«
Ich spürte sein Nicken und hörte das schwache Geräusch, als er sich entfernte. Kenji und ich folgten ihm über die Mauer. Im Schein der Feuerschale nahm ich plötzlich einen kleinen Schatten wahr. Er huschte über den Boden und teilte sich in zwei Hälften, lautlos und unheimlich.
»Was war das?«, rief einer der Wachtposten.
Sie waren aufgesprungen und starrten auf die beiden Ebenbilder Takus. Es war ein Leichtes für uns: Jeder tötete einen, geräuschlos.
Die Wachtposten hatten gerade Tee zubereitet, also tranken wir ihn, während wir warteten, bis es tagte. Nach und nach verblasste der Himmel, der vom Wasser nicht mehr zu unterscheiden war; alles wirkte wie eine einzige schimmernde Fläche. Als die Muschelhörner herüberschallten, lief mir ein Schauer den Rücken hinunter. Als Antwort vom Ufer ertönte das Heulen von Hunden.
Ich hörte, wie drinnen hektische Betriebsamkeit ausbrach: das Tappen von Füßen, noch nicht panisch, Rufe des Erstaunens, noch nicht besorgt. Die Läden wurden aufgestoßen und die Türen glitten auf. Eine Schar von Wachen kam in den Hof gelaufen, gefolgt von Shoichi und Masahiro, immer noch in ihren Nachtgewändern, jedoch mit gezückten Schwertern.
Sie blieben wie angewurzelt stehen, als sie mich auf sich zukommen sahen, das Schwert in der Hand, inmitten der Nebelschwaden, die mich umwehten. Hinter mir tauchten die ersten Schiffe auf; wieder tönten die Muschelhörner über das Wasser und ihr Ton hallte von den Bergen, die die Bucht umgaben, wider.
Masahiro wich einen Schritt zurück. »Shigeru?«, keuchte er.
Sein älterer Bruder wurde leichenblass. Sie sahen den Mann vor sich, den sie zu ermorden versucht hatten; sie sahen das Schwert der Otori in seiner Hand und blankes Entsetzen überkam sie.
»Ich bin Otori Takeo, Enkel des Shigemori, Neffe und Adoptivsohn von Shigeru«, sagte ich mit lauter Stimme. »Ich mache euch verantwortlich für den Tod des rechtmäßigen Erben des Otoriclans. Ihr schicktet Shintaro, um ihn zu töten, und als das Attentat fehlschlug, habt ihr euch mit Iida Sadamu verschworen, um Shigeru zu ermorden. Iida hat dafür bereits mit seinem Leben bezahlt, und nun wird es euch ebenso ergehen!«
Ich merkte, dass Kenji mit erhobenem Schwert hinter mir stand; Taku war hoffentlich immer noch unsichtbar. Ich ließ die beiden Männer vor mir nicht aus den Augen.
Shoichi rang um Fassung. »Deine Adoption war illegal. Du hast keinerlei Ansprüche auf das Erbe der Otori, geschweige denn auf das Schwert, das du trägst. Wir erkennen dich nicht an. Schlagt sie nieder!«, rief er seinen Gefolgsleuten zu.
Jato schien in meinen Händen zu vibrieren, als es erwachte. Ich war bereit, dem Angriff zu begegnen, aber niemand rührte sich. Ich sah Shoichis Gesicht, als er begriff, dass er selbst gegen mich würde antreten müssen.
»Ich habe nicht die Absicht, den Clan zu spalten«, sagte ich. »Alles, was ich will, sind eure Köpfe.« Der Warnungen waren genug; ich spürte, wie es Jato nach Blut dürstete. Es war, als ob Shigerus Geist von mir Besitz ergriffen hätte und seine Rache forderte.
Shoichi stand näher zu mir und ich wusste, dass er besser mit dem Schwert umgehen konnte. Ihn
Weitere Kostenlose Bücher